Tania hatte bestimmt einen gewaltigen Schreck bekommen, als sie uns am Flughafen von Brisbane völlig verwirrt vor dem Gepäckförderband stehen sah. Bei einem unserer zwei Gepäckstücke war nämlich eine Seitentasche vollständig aufgerissen. Wahrscheinlich hatte ein freundlicher Mitarbeiter von British Airways beim Entladen der Maschine die Tragegurte des Rucksacks übersehen und geglaubt, er könnte das 20 Kilo Stück an eben dieser besagten Seitentasche aus dem Flieger hieven.

Es war das Staufach für Annes Kosmetikartikel, und als sich unsere Taschen nun langsam vor hundert anderen Passagieren, die ebenfalls noch auf ihr Gepäck warteten, entlang schlängelten, zogen sie eine Spur von Antifaltencreme, Wattestäbchen, Antitranspirant Axelspray und einem Jahresvorrat an Tampons hinter sich her. Wir versuchten cool zu wirken als uns die beiden Taschen erreichten, was aber unter den Blicken der restlichen Passagiere nicht so einfach war. Sie waren der Spur gefolgt und wollten nun auch wissen, wer diesen riesen Bedarf an Watteproppen zu verzeichnen hatte. So stopften wir dann lediglich die schwarze Haaransatzfarbe, welche noch nicht auf dem Förderband gelandet war und halb aus der aufgerissenen Seitentasche herausragte, zurück in die Tasche und griffen unauffällig nach dem Axelspray, welches wir auf gar keinen Fall auf dem Laufband liegen lassen wollten. Bei den restlichen Gegenständen taten wir so, als hätten wir absolut keine Ahnung wo diese herkamen, was uns aber die Fluggäste, die uns immer noch beobachteten, mit Gewissheit nicht abgenommen haben.
So drehten wir uns um und sahen Tania mit ausgebreiteten Armen vor uns stehen. Wir hatten sie vor einanderthalb Jahren in Halifax (Kanada) kennengelernt. Damals verhalf sie mir zu meinem Job auf der Baustelle und auch bei Annes Jobsuche war sie nicht unbeteiligt. Jedenfalls hatten wir den Kontakt halten können und sie hatte uns sofort zu sich und ihrem Freund Aaron eingeladen, nachdem sie erfahren hatte, dass wir unseren Hinflug nach Brisbane gebucht hatten.

Wir haben uns sehr gefreut sie wieder zu sehen. Nachdem wir die nächsten zwei Tage durchgeschlafen hatten und dadurch unser Jetlag, ich sage Euch: so schwer hatte es uns noch nie erwischt, etwas besser wurde, machten wir uns daran die Stadt Brisbane zu erkunden. Wir waren vor vier Jahren schon einmal hier gewesen, aber zum kennenlernen hatte die Zeit wahrhaftig nicht ausgereicht. Tagsüber verbrachten wir einige Stunden in der City, aber der Abend gehörte Tania und Aaron. Und natürlich auch die Wochenenden.
Brisbane selbst besitzt keinen Strand und so war unsere Freude natürlich riesig als Aaron und Tania uns in ihren Jeep verfrachteten und uns zu einem Strand an der Sunshine Coast mitnahmen, den man nur mit Allradantrieb erreichen konnte. Hier wurde uns erst richtig klar darüber wo wir uns befinden: „In Australien!“

Auch haben wir durch die beiden unheimlich nette Leute kennengelernt. Zum Beispiel sind da Ren und Stacy die uns alle gemeinsam zu ihrem Wochenendhaus in Colom Beach (Sunshine Coast) eingeladen hatten.

Für mich persönlich war das Größte, als Aaron und Ren mir meinen ersten Unterricht im Surfen erteilten. Ich denke ich habe meine Sache ziemlich gut gemacht fürs erste Mal. Da ich mich im Wasser aber nicht länger als zwei Sekunden auf dem Brett halten konnte, bin ich mehrmals den Strand hoch und runter gelaufen. Mit dem Surfboard unterm Arm, um wenigstens einmal cool auszusehen. Anne meinte dann aber später, dass es nicht geklappt hätte. Aus mehreren Gründen, die ich hier jetzt aber nicht aufzählen möchte.
Nach der ersten Woche, unser Jetlag war nun vollkommen verschwunden, machten wir uns daran, einen passenden, fahrbaren Untersatz für uns zu finden. Es war alles nicht so leicht, wie wir es uns vorgestellt hatten und die Tatsache, dass es in Brisbane keinen Automarkt für Backpacker (Rucksackreisende) gab, machte die ganze Angelegenheit nicht einfacher. Somit mussten wir uns auf die Verkaufszettel am Schwarzen Brett in den Jugendhosteln (auch Backpacker genannt) und auf die Lokalzeitung beschränken. So klapperten wir nun einen Backpacker nach dem anderen ab, um ein passendes Angebot für uns zu finden. Wir fanden drei.
Der erste Bus, angeboten von einer jungen Schottin, die ihr Jahr in Australien fast beendet hatte, hatte 470.000 Kilometer auf dem Tacho, keine Fenster, hörte sich vom Motor her allerdings ziemlich gut an. Kurz gesagt, zu viele Kilometer für unseren Geschmack.

Der zweite war ein Toyota. Den Kilometerstand konnte man nicht sagen, da das Tacho gar nicht erst funktionierte. Der etwas ölverschmierte Motor hörte sich aber dennoch ok für mich an. Die beiden Franzosen, denen gehörte dieses Schmuckstück, gaben uns jedoch das Gefühl dass sie da etwas verheimlichten. Es war eigenartig. War es das ständige Fingernägelkauen während ich das Auto inspekzierte? Vielleicht aber sah ich bei der Inspektion auch nur übermaessig professionell aus und habe sie deshalb nervös gemacht. In Wahrheit aber war alles nur eine Show von mir, denn ob ich nun in einen Motor hineinschaue oder nicht. Es macht keinen Unterschied. Für mich sehen die Dinger alle gleich aus. Als mir Jacques, so hieß der eine und dessen Fingernägel mittlerweile bis zum Ansatz verschwunden waren, völlig unterschiedliche Antworten, im Gegensatz zu seinem Kumpel, auf meine Fragen zum Auto gab, war die Sache für uns geregelt. Wir entschieden uns nicht für dieses Auto, sondern für den Dritten in unserer Angebotsliste.

Ein kleiner Ford Econovan, dessen Annonce wir in der Lokalzeitung fanden. Baujahr 1995 und im Vergleich zu den anderen Bussen echt wenig auf dem Tachostand, nämlich nur 212000 Kilometer. Der „einzige“ Nachteil eben war, dass der Bus komplett leer war. Kein Bett, keine Schränkchen und so natürlich auch keine weitere Ausrüstung. Aber das kannten wir ja schon und wollten diesen Fakt daher nicht zum Problem werden lassen.
Somit machten wir uns daran alles nötige zu besorgen, um den Busausbau in Angriff nehmen zu können. Dieser Bus, wir haben ihn übrigens „Sammy“ getauft, war wohl der kleinste Van, den wir je hatten. Deshalb war es natürlich auch nicht leicht den Ausbau so zu planen, dass wir unsere nach und nach besorgte Ausrüstung unterbringen konnten und auch noch Platz für Essen und unsere Klamotten zu haben. Weiterhin sollte es auch möglich sein, bei Regen im Bus zu sitzen und gar zu kochen.

Es klang nach einer kleinen Herausforderung und wir machten uns umgehend daran, eine passende Lösung zu finden. Und wir haben sie gefunden. Durch Tanias und Aarons Hilfe, die uns ihre Garage und etwas Werkzeug zur Verfügung stellten, wurde unser Projekt natürlich erheblich einfacher und nach nur drei Tagen war der Ausbau komplett.

Dreieinhalb Wochen sind seit unserer Ankunft schon vergangen und es wurde Zeit für uns aufzubrechen. Der Ausbau von unserem Van Sammy war komplett abgeschlossen, somit stand nur die Frage offen, welche Richtung wir einschlagen würden.
Die Wahrscheinlichkeit im Süden Brisbane’s Arbeit zu finden war wohl zu diesem Zeitpunkt etwas höher, trotzdem konnten wir dem Reiz der fantastischen Strände im Norden Queenslands nicht widerstehen. Wir hatten aber auch erfahren, dass in der Umgebung von Bowen, einer Stadt circa 1500 Kilometer nördlich von Brisbane, die Mangosaison in Kürze beginnen sollte. Das kam uns natürlich sehr gelegen und so machten wir uns auf in den tropischen Nordosten.
Die Tatsache dass da oben bald die Regenzeit beginnt störte uns allerdings nicht. …Noch nicht!
Nach der Verabschiedung von Tania und Aaron, die sich so lieb um uns gekümmert hatten, ging es los. Ein Aufbruch ins Ungewisse.Wir konnten es irgendwie nicht fassen wieder in einem Kleinbus zu sitzen, der für die nächsten Monate unser Zuhause sein soll. Wir beide, ein Pärchen von der Ostsee, unterwegs in einem Land, dessen Fläche eineinhalb mal größer ist, als die Europas. Das Gefühl von Freiheit und Abenteuerlust war unbeschreiblich und wurde mit jedem gefahrenen Meter größer. Jetzt brauchten wir nur noch eins um unsere Eindrücke zu verstärken: …Musik!Wir waren gerade 20 Kilometer aus der Stadt, als wir gewissermaßen mitanhören konnten, wie unser Autoradio seinen Selbstzerstörungsmechanismus einschaltete und seinen letzten, immer leiser werdenden Atemzug tätigte. Es geschah genau zu dem Zeitpunkt der Wettervorhersage. Wir konnten gerade noch verstehen, dass wohl für die nächsten Tage Regen zu erwarten ist, aber so ganz genau war das nicht mehr zu hören. Es könnten auch Wochen sein.“Hey, was soll’s.“, dachten wir. Davon ließen wir uns doch nicht einschüchtern. Das Radio war eh schon alt und unser Abenteuergefühl wurde dennoch immer größer.
So kamen wir an wunderschönen Orten entlang und unsere Freude darüber, dass wir uns für den Norden entschieden hatten war groß. Die Strände Queenslands sind wirklich unbeschreiblich. Von unserem Radio hörten wir doch tatsächlich kein Wort mehr. Ich vermute mal, es muss sich beim dahinleben wohl noch gedacht haben: „Eh, wenn ich untergehe, nehme ich alle anderen auch mit!“, denn nun hatte es auch unser Licht in der Fahrerkabine entschärft. Das machte das Kartenlesen im Dunkeln um einiges komplizierter. Bei dem Zigarettenanzünder waren wir uns nicht so sicher, denn wenn ihn nicht die Kettenreaktion des Radios erwischt hatte, funktionierte er wohl von vornherein nicht. Aber wer weiß das schon?
Wir waren mittlerweile schon kurz vor Bowen angelangt, als das Auto komisch zu wackeln begann. Was die Ursache dafür war, konnten wir anfangs nicht erkennen. Das uns auf halber Strecke ein entgegenkommendes Auto irgendwie einen Stein in die Frontscheibe geschleudert hatte, welcher uns einen dreißig Zentimeter Riss verschaffte, hatte damit sicherlich nichts zu tun. Als das Auto aber so heftig zu schleudern und unsere Fahrt fast an einer Stelle durch das auf der klinken Seite befestigte Brückengeländer oder durch ein vorüberziehendes Auto zu unserer Rechten beendet wurde, wussten wir das wir einen kaputten Reifen hatten.
Wir hatten vorher wirklich nichts finden können. Die Reifen sahen in Ordnung aus.Aber so war es nun mal, und nachdem ich unseren Ersatzreifen aufgezogen hatte, machten wir uns auf zur Weiterfahrt nach Bowen.
Der Regen hatte zwar aufgehört, aber unsere Pechsträhne nahm einfach kein Ende. Wir mussten mittlerweile schon den zweiten Reifen wechseln. Der Reifenverkäufer wies uns darauf hin, dass man für einen Van wie unserem keine wieder aufgebesserten Reifen verwenden sollte. Die Autos seien zu schwer dafür und die Strassen zu heiß. Wir haben das nicht gewusst. Das Ärgerliche aber war, dass genau diese beiden Reifen gerade von unserem Autoverkäufer erneuert wurden. Ich glaube aber es ist unsere Schuld. Wir hätten einfach stutzig werden müssen, als Malcolm, so hieß der Typ von dem wir den Van haben, die beiden Reifen mit ’ner Kiste Bier vor Ort bezahlte.
Jedenfalls konnten wir wieder getrost fahren, unser Budget war durch die beiden Reifenpannen jedoch auf einen zweistelligen Betrag geschrumpft. Die Frontscheibe hätten wir aber so oder so nicht repariert, denn wir waren uns nun sicher darüber, vom Pech verfolgt zu sein. Mit Gewissheit wäre uns sofort ein anderer Steinbrocken durch die neue Scheibe geschossen.Das Licht im hinteren Teil von Sammy ist nun auch der Kettenreaktion vom Radio zum Opfer gefallen. Durch den linken Außenspiegel kann ich lediglich sehen, wie sich unser linkes Vorderrad dreht und unser Wasserkanister hatte sich bereits zum dritten mal im Hinterabteil unserer Behausung entleert. Und…zu guter Letzt ist meine neue Angel bei meinem ersten Angelversuch genau in der Mitte durchgebrochen. Es ging alles sehr schnell: Köder am Haken, Angel ausgeworfen, dann Fisch angebissen und beim ersten Anziehen meinerseits…“krach“. Das war jetzt alles nicht mehr so gut. Unser Freiheitsgefühl war zwar noch vorhanden aber die Abenteuer“lust“ hatte sich bei mir bestimmt schon nach dem ersten mal, als ich die Schiebetür öffnete und mir die zwanzig Liter Wasser aus unserem Kanister entgegenschwappten, in Abenteuer“frust“ verwandelt.
Was war nur los? Es schien als ob alles was wir unternahmen in die Hose ging. Wirklich zum verzweifeln. Auch die Mangosaison hatte sich etwas verspätet und wir waren gezwungen wohl noch zwei Wochen auf Arbeit zu warten. Es musste etwas passieren, denn noch zwei Wochen hätten wir mit unserem Budget nicht überstanden. Also machten wir uns daran sämtliche Melonenfarmen in der Umgebung abzuklappern, um dort nach Arbeit zu fragen.
Wer suchet der findet. Ein Besitzer einer Mangofarm hatte uns sozusagen schon eingestellt. Der Nachteil war, wir mussten halt noch circa eineinhalb Wochen warten, bis die Ernte beginnt. Ein Vorteil war, er kannte sämtliche Farmen in der Umgebung und konnte uns sagen, welche noch Arbeiter benötigten.Und schon beim ersten Versuch war der Job da. Es erforderte nur eine kleine Lüge meinerseits. Der Farmer fragte mich nämlich, ob ich Gabelstapler fahren könnte. Was soll ich sagen, wir steckten in einer Situation, in welcher sozusagen gelogen werden musste. Egal welche Frage zu Euren Fähigkeiten kommt, Ihr antwortet mit Ja! Und über die Konsequenzen denkt ihr dann später nach. „Natürlich bin ich schonmal Stapler gefahren!“ In Wahrheit hatte ich natürlich keinen blassen Schimmer, wie man so ein Ding bedient. Aber irgendwie sollte ich das schon hinbekommen.
So bekamen wir unseren ersten Job. Anne „durfte“ Honigmelonen verpacken und ich die riesen Kisten mit dem Forklift durch die Gegend befördern. Am ersten Arbeitstag habe ich einfach einen anderen Staplerfahrer gefragt, ob er mir etwas auf die Sprünge verhelfen könnte, da mein letzter Staplerdienst schon etwas her sei. Er erklärte mir dann kurz die ganzen Hebel und ich war auf mich allein gestellt.Ich habe an den ersten Tagen hauptsächlich leere Melonenkisten fallen lassen. Bei den Vollen halfen mir einige Mitarbeiter die Früchte so schnell es geht wieder einzusammeln, bevor der Boss es bemerkte.
Somit war alles ok und wir konnten unsere Finanzen nach 10 Tagen, so lange arbeiteten wir nämlich auf dieser Farm, wieder auffrischen.Danach begann die Mangosaison. Hier seht ihr das Packhaus, in dem wir die nächsten vier Wochen, solange dauerte die Ernte, verbrachten. Anne am Sortiertisch, wo sie mit Helen, einer Insulanerin unheimlich viel Spaß hatte, und ich am anderen Ende der Halle, wo die Boxen gestapelt werden und die fertigen Paletten verschnürt und verladen werden. Es ist mit Sicherheit keine anspruchsvolle Arbeit, aber besser als gar keine. Und in unserer Situation waren wir sogar richtig glücklich über jede Minute, die wir dort arbeiten durften.
Wir haben uns unseren Van zugelegt, damit wir während unseres Jahres kaum Geld für Unterkünfte ausgeben müssen. Deshalb ist alles was wir nach der Arbeit wirklich benötigen, eine Dusche. Die haben wir gefunden. Und zwar am so genannten „Comfort Stop“ in Home Hill, einem kleinen Ort ungefähr dreißig Kilometer von unserem neuen Arbeitsplatz entfernt. „Comfort Stop“ ist eine Ratsstelle, an welcher man sauber Toiletten, eine überdachte Küchenzone mit freier Grillbenutzung und selbstverständlich mehrerer Duschen findet. Tägliche Reinigung der Anlage inklusive. Und das alles umsonst, ein Paradies für Backpacker.
Die Sache hatte aber einen Haken. Die Regeln dieser Raststelle erlaubten nur einen maximalen Aufenthalt von 48 Stunden. Wir waren insgesamt wohl an die 5 Wochen dort. Und wir waren nicht allein. Da waren Jordi (Spanien), Lianda, Jordi’s Freundin aus Lettland und das englische Pärchen Ken & Kathie. Gemeinsam verbrachten wir die gesamte Zeit an diesem „Comfort Stop“, welcher dadurch sogar ein wenig zu unserem zu Hause wurde. Unser schlechtes Gewissen, wegen der Länge unseres Aufenthalts war einfach nicht groß genug, um von dort zu verschwinden.
So schaute es aus mit uns und es machte sogar den Anschein, dass die Pechsträhne verschwand. Ein kleiner Lichtblick war auch, dass wir doch tatsächlich Frank und Nicole in Bowen wiedertrafen. Die beiden kommen aus Gadebusch, einem unserer Nachbarorte in Deutschland. Wir hatten sie bereits in Brisbane getroffen, hätten aber nicht gedacht sie so schnell wieder zu sehen. Frank hatte nämlich Anfang 2002, als Annemaus und ich unsere erste Reise (damals nach Neuseeland) antraten, unsere Wohnung in Wismar übernommen.
So klein ist die Welt. Wir sind jedenfalls gespannt, ob wir die beiden noch einmal wiedersehen können.
Wir hatten uns dazu entschieden weiter hoch in den Norden zu fahren. Wir wussten zwar, dass die Regenzeit in den nächsten Monaten ihren Höhepunkt erreichen wird, wollten aber die Gelegenheit, in den tropischen Norden Australiens zu gelangen, nicht verpassen. Immerhin waren wir ja weniger als fünfhundert Kilometer von Cairns entfernt, und somit nahmen wir die Strecke mit Leichtigkeit auf uns.
Die Fahrt war ziemlich entspannend. Das Wetter war schön und die Natur wurde immer australischen typischer.
Der Riss in der Frontscheibe hatte sich derweil seinen Weg bis an den oberen Rand der Verglasung gebahnt. Den Unteren hatte er ja bereits vor Beginn der Arbeit erreicht. Jetzt sieht die Scheibe aus, als würde sie jederzeit in zwei Hälften brechen. Unsere Lüftung hat es mittlerweile auch entschärft. Na eigentlich funktioniert sie noch, denn wenn man den Knopf auf die höchste Stufe dreht, arbeitet sie auf vollen Touren. Komischer Weise kommt aber kein einziger Hauch von Luft in unsere Fahrerkabine. Wahrscheinlich wird die Luft direkt in den Tank geblasen. Das würde dann zumindest unseren hohen Spritverbrauch erklären. Aber was sollen wir machen? Irgendwie kommen wir dennoch immer zu unseren Zielen. In diesem Fall war es Cairns.
Es war ein Gefühl des nach Hausekommens, als wir am Ortseingangsschild von Cairns vorbeifuhren. Vor genau viereinhalb Jahren lebten wir fünf Monate in dieser wunderschönen Stadt am Grossen Barriere Riff. Wir hatten hier damals gearbeitet und Cairns folglich kennen und lieben gelernt. Und jetzt war es soweit: Wir waren zurück. Nie zuvor besuchten wir einen Ort im Ausland, welchen wir kurzzeitig unser zu Hause nannten, ein zweites Mal. Irgendwie hatten wir aber den Eindruck es würde nicht der letzte hier in Australien sein.
So fuhren wir erst einmal bekannte Strassen entlang um unsere Erinnerung wieder wachzurütteln. Es war herrlich. Alles kam uns bekannt vor. Wir kannten noch immer die Straßennamen; erinnerten uns an Shops, in denen wir einkauften; auch an Restaurants, in denen wir gegessen und Pubs, in denen wir gefeiert hatten. Danach stoppten wir an der „Lagune“. Die „Lagune“ ist ein öffentlicher und kostenloser Swimmingpool, mitten im Stadtzentrum. Er wurde angelegt, da Cairns keinen Badestrand besitzt. Der nächste liegt so ungefähr zehn Kilometer entfernt und deshalb trifft sich hier nun täglich die gesamte Stadt. Nach einem ausgiebigen Bad in diesem Pinkelpool und anschließender Dusche, machten wir uns wieder auf: Richtung Mareeba.
Mareeba ist ein Örtchen mitten im Regenwald und sollte für die nächsten dreieinhalb Wochen unser zu Hause werden. Davon wussten wir zu dem Zeitpunkt, als wir aus Cairns herausfuhren, natürlich noch nichts. Es kam jedoch alles schneller als wir es erwartet hatten. Kaum angekommen ging es gleich zu einer Jobagentur. Die nette, alte Dame dort konnte uns allerdings keine Arbeit vermitteln. Nachdem ich aber meinen „Charme“ spielen liess, wies sie uns freundlich auf eine große Farm hin, welche eventuell noch Arbeit zu vergeben hätte. Und so war es auch. Der italienische Besitzer dieser riesen Mangoplantage konnte tatsächlich noch zwei tatkräftige Arbeiter gebrauchen. Na, da kamen wir doch genau richtig. Bis zum Arbeitsbeginn jedoch waren noch fünf Tage Zeit und so entschlossen wir uns kurzerhand zurück nach Cairns zu fahren, wo ich, Bunki, einen Tauchkurs absolvieren wollte.
Wie ich bereits erwähnte: Cairns liegt direkt am Grossen Barriere Riff und ist der Ausgangspunkt vieler Tourunternehmen, welche Tauch- und Schnorchelgänge anbieten. So suchte ich mir einen preiswerten Anbieter und begann meine ersten zwei, von insgesamt vier, Tage im Klassenraum und Swimmingpool.
Was für eine Herausforderung. Ich hätte das Angebot, den Kurs in Deutsch zu absolvieren, annehmen sollen. Ich wieder…„Hey…“, dachte ich noch, „…wie schwer kann es mit meinem Englisch schon werden?“ Als unser neuseeländischer Tauchlehrer dann die ersten Fachausdrücke in den Raum knallte, sah ich die Schlagzeile bereits vor mir: „ Deutscher Tauchschüler tot im Trainingsbecken aufgefunden – Er erwürgte sich mit eigenem Luftschlauch!“. Auch fühlte ich mich sogleich an meinen „ersten“ Tauchgang in der Ostsee erinnert. Damals, vor bestimmt zehn Jahren, hatten Freunde von mir, morgens nach einer Party, die clevere Idee, noch Tauchen zu gehen. Ich sollte mit. Yeahhhh…was für ein Spaß. Ich werde es nie vergessen. Da stand ich nun, im Neoprenanzug, mit meinen vier Tauchgenossen auf der Mole in Tarnewitz. Noch nie zuvor hatte ich eine Ausrüstung zum Tauchen gesehen. All diese Schläuche und Instrumente, ich hatte keine Ahnung wozu diese dienten. Auf meine Frage: „Hey, und was ist das hier?“, bekam ich nur die Antwort: „Joh, dat mussu in Mund stecken. Da krissu Luft durch.“ „Ok. Und das hier?“ „Dat ist deine Weste. Da mussu erst Luft rein machen und dann wieder raus machen.“ „Aha! Und diese zwei Sachen da?“ „Dat eine ist dein Bleigürtel. Mit dem gessu unner. Dat andere ist dein Dolch. Den mussu dir an dein Schienbein binden.“ „Na gut.“ Ich hatte dann Luft in die Weste „gemacht“ und mit meinem Messer, welches mir vom Knöchel bis zum Oberschenkel reichte, sah ich damals aus, wie ein Elite Kampftaucher. Wozu dieses so wichtig sein sollte, weiß ich bis heute noch nicht. Es sah auf jeden Fall unheimlich cool aus. Eine Weile später trieb ich völlig nervös an der Wasseroberfläche. Den Zweimetersprung von der Mole hatten wir alle gut überstanden. Einer meiner Tauchbuddy’s erklärte mir dann noch schnell, wie wichtig es sei, auf gar keinen Fall schnell aufzutauchen. Wenn man nämlich auf acht Meter Tiefe herunter will, sei es sehr gefährlich und könnte zu ernsthaften, gar tödlichen, Verletzungen führen, falls man zu schnell an die Oberfläche kommt. „Ok!“ Ich war sehr glücklich, dass mir diese Tatsache noch beigebracht wurde. Nun war ich richtig beruhigt. Und dass keiner von uns Fünfen einen Tauchschein besaß, machte die ganze Angelegenheit noch entspannter. Ich wurde dann, da es mit meinem Abtauchen nicht so richtig funktionierte, an die Hand genommen und in die Tiefe gezogen. Das war mein erster Tauchgang, bei welchem ich ungefähr fünfzig Minuten unter Wasser blieb. Etwas später folgte dann ein zweiter, aber danach kein weiterer. Bis hier in Cairns.
Ich dachte mir jedenfalls, wenn ich meinen ersten Tauchgang überlebt habe, dann schaff ich das hier doch auch. Was soll ich sagen? Im Endeffekt hat sich alles dem Guten zugewandt. Ich habe die Prüfung bestanden und hatte fünf fantastische Tauchgänge am Grossen Barriere Riff. Leider war meine Annemaus nicht an meiner Seite. So wie ich an Höhenangst leide, geht es ihr mit der Tiefe. Beim Schnorcheln aber gibt es ihrerseits keine Probleme und so konnten wir die farbige Unterwasserwelt gemeinsam von der Oberfläche bestaunen.
Kaum hatten wir den festen Boden wieder betreten begann auch schon die Arbeit im Mangopackhaus. Das schöne war, wir haben sogar eine Unterkunft von unserem Arbeitgeber gestellt bekommen. Ein ganzes Haus wurde uns überlassen. Wir mussten es uns zwar mit einem anderen Pärchen teilen, aber es war dennoch groß genug um sich so richtig breit zu machen. Das war natürlich eine super Sache für uns. Das Haus befand sich direkt auf dem Grundstück und wir konnten somit zum Packhaus laufen. Unser „Sammy“ (unser Van) musste nämlich wieder in die Werkstatt, wo ihm dieses mal ein neuer Kühler eingebaut wurde. Mit der Lüftung hatte das aber nichts zu tun. So verbrachten wir folglich die nächsten dreieinhalb Wochen auf dieser Farm, haben viel gearbeitet und natürlich viele, viele Mangos gegessen.
Die Mangosaison hatte ihr Ende erreicht. Die letzten Früchte wurden verpackt und wir bereiteten uns auf unsere Weiterfahrt vor. Der Süden Australiens, entlang der Ostküste, war unser Ziel. Unseren Van „Sammy“ hatten wir bereits eine Woche zuvor von der Werkstatt geholt, wo uns der vierstellige Rechnungsbetrag fast ohnmächtig werden ließ.
Aber was sollten wir machen, wir hatten doch keine Wahl? Der neue Kühler war mit Gewissheit notwendig. Nach einer Weile, als die Farbe wieder langsam in unsere Gesichter zurückkehrte und wir wieder besser atmen konnten, teilte uns der Mechaniker noch beiläufig mit, dass er bei seiner Arbeit an dem Van „drei kleine“ Öllecks entdeckt hatte. Na das war erleichternd. Wir hatten ja bereits die Ölflecken unter dem Auto gesehen, aber geglaubt, es sei nur ein „großes“. Aber nein, es sind drei kleine.
Eines dieser drei hatte er aber bereits repariert. Die anderen zwei würden jedoch weitere sieben- bis achthundert Dollar bei ihm kosten. Er hätte uns auch gleich eine in die „Schnauze“ hauen können, denn uns diese Zahlen so bescheiden an den Kopf zu ballern, tat deutlich mehr weh. Das war einfach zu viel für uns. Es muss doch auch irgendwann einmal wieder aufhören. Eine Reparatur nach der anderen und das Auto wird und wird nicht heil. Ob das alles noch mit der Kettenreaktion vom Radio zusammenhängt? Vermutlich sollten wir unsere gesamte Konzentration auf das Radio lenken und versuchen, es einfach zu reparieren? Na das wäre was, Radio wieder heil und gleich danach die Öllecks verschwunden. Ich werde diese Angelegenheit definitiv mit dem nächsten Mechaniker besprechen.
Wir verließen Mareeba. „Bevor wir aber diese Region hinter uns lassen…, so dachten wir, „…wollen wir es uns noch einmal so richtig gut gehen lassen“. Wir hatten bei einem unserer gelegentlichen Cairnsbesuchen einen chinesischen Massagesalon entdeckt und wollten dort, so ganz relaxt, unsere verspannten Muskeln massieren lassen. Nach all der harten Arbeit im Packhaus wirkten wir nämlich mittlerweile ziemlich verkrampft. Und was kann es da besseres geben, als eine asiatische Massage?
Ich meine, wir schwärmen ja heute noch von diesen fantastischen Thaimassagen, die wir damals fast täglich über uns geschehen ließen. „Na ob nun thailändisch oder chinesisch? Dat ist doch auch alles eins. Das muss doch gut sein.“
Kaum erreichten wir den Salon, traten auch schon drei der fünf Angestellten auf uns zu. „Juu niiid massahhhsch?“ „What?“ „JUU NIIID MASSAHHHSCH?“ „Ahhh, ob ich eine Massage möchte?“ „Ja, bitte.“ Und so betraten wir den Behandlungsraum.Wir konnten uns sogar die Zonen aussuchen, auf welche sich die Angestellten konzentrieren wollten. Ich entschied mich für meine Schultern, meinen Nacken und überhaupt für meinen gesamten Rücken. Bei welchen Körperteilen Anne um besondere Aufmerksamkeit bat, weiß ich nicht. Im Nachhinein spielte es auch keine Rolle mehr.
Da lagen wir nun, mit dem Gesicht nach unten, die Augen geschlossen und bereit, endlich von den Verspannungen befreit zu werden. „Juu niiid massahhhsch?“ „Ohh, juu gett massahhhsch!!!“
Ich weiß nicht mehr, ob mein Masseur versucht hatte meine Wirbelsäule zutreffen oder nicht, aber der erste Schlag verfehlte diese um einige Zentimeter. Er traf die rechte Niere. Meine Augen rissen sich auf und kniffen sich automatisch vor lauter Schmerz wieder zusammen. „Hatte der Typ eben gerade seine Faust benutzt?“ Ich hatte keine Zeit darüber nachzudenken, denn der zweite Schlag kam sofort. Ja, es war die Faust und dieses Mal traf er die Wirbelsäule. „Was geht hier vor?“ Mir war schwindelig. Ich brauchte ein paar Sekunden um zu verarbeiten, was mir hier soeben widerfahren war. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte man glauben können, mein Masseur kann mich nicht leiden und will eine Schlägerei mit mir anfangen.
„Sollte ich was sagen?“ Ich war mir nicht sicher. Dieser Gedanke war noch nicht einmal zu Ende gedacht, als mir Bruce Lee beide Fäuste, auf einem Mal, in den Rücken rammte und sie dann entgegen des Uhrzeigersinns drehte. Ich stöhnte laut auf vor Schmerzen. Gleich danach formte er eine flache, harte Hand und trieb sie mir systematisch in den Rücken. Links, rechts, links, rechts, links, rechts. Mein Rücken war taub. Dann kam eine Pause, denn er ließ zu meiner Rettung für einen kurzen Moment von mir ab. Wahrscheinlich war er, nach all den Schlägen, völlig außer Puste und musste sich ausruhen. Aber genau kann ich das nicht sagen, ich hatte ja mein Gesicht immer noch in diesem Loch. Ich entspannte kurzzeitig mein schmerzverzerrtes Gesicht und öffnete meine Augen. Ich sah die dicken Füße von meinem Peiniger auf dem weißen Fliesenfussboden direkt vor mir. Er trug Flip Flops.
Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, der einzige Patient zu sein, welcher hier so zugerichtet worden war. So begann ich, den Fliesenfussboden nach Blutspritzern anderer Patienten abzusuchen. Plötzlich wurde ich durch einen Schmerzensschrei von Anne wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Sie hatte es also auch erwischt. Ich kam kurz hoch, um zu sehen, ob Anne sich noch bewegen kann. Sie lag zwei Liegen weiter entfernt und ich sah, wie ein anderer Kung Fu Kämpfer sie gerade mit einer Hand bearbeitete. Mit der anderen telefonierte er nämlich. Er unterhielt sich aufgebracht und lachend auf Chinesisch während er impulsiv auf Annes Rücken einhämmerte. Ihr kurzzeitiges Kopfnicken nach jedem Schlag, verriet mir, dass seine Schläge volle Wirkung erzielten. Er aber lachte und brabbelte an seinem Nokia vor sich hin. Wahrscheinlich berichtete er gerade seinen Freunden, dass sie wieder zwei Ahnungslose gefunden haben, an denen sie ihr Kampfsporttraining verbessern könnten. Bruce Lee presste derweil meinen Kopf zurück in das Loch und meinte ich sollte mich bitte entspannen. Er wollte bestimmt nicht, dass ich sehe, auf welche Weise sie Anne fertig machen. Ich glaube auch, es hatte ihm nicht gefallen, dass ich kurz meinen Kopf angehoben hatte, denn jetzt stieß er mir seine Fäuste noch härter und noch gezielter in meine Nackengegend. Und jedes Mal drehte er sie, bevor er wieder zu einem neuen Schlag ansetzte, entgegen des Uhrzeigersinns herum. Dass dabei meine Haut zwischen seinen Fingern klemmte, machte die ganze Sache erst richtig schmerzhaft, störte ihn aber wenig. Annes „Masseur“ war nun fertig mit seinem Telefonat und konzentrierte sich wieder beidhändig auf die Rückenbehandlung. Er muss sich bei seinem Gespräch einen Schnupfen eingefangen haben, denn kaum hatte er aufgelegt, begann er dermaßen laut seine Nase hochzuziehen, dass wir regelrecht mit anhören konnten, wie sich seine Nasennebenhöhle immer weiter verstopfte. Alle zwanzig Sekunden ein Geräusch, als ob er sich noch zusätzlich etwas Nasenschleim aus dem kleinen Zeh saugte.
Es war widerlich, aber vermutlich wäre Anne die Schnodder auf den Rücken getropft, wenn er sie nicht eingesaugt hätte. Das war jedenfalls der Höhepunkt unserer Folter. Als ob sie uns nicht schon genug Schmerzen widerfahren haben. So gab es noch psychisch einen oben drauf.
In dem Moment, als Schnoddernase seinen Rotz zum fünfunddreißigsten Mal in seine Stirnhöhle pumpte, ließ Bruce Lee von mir ab. Er ging kurz hinter den Tresen und kam mit einer Broschüre zurück, auf der ein Männchen aufgemalt war. Diese Abbildung des menschlichen Körpers, die der berühmten Figur Leonardo Da Vincis ähnelte, wies einige schwarze Punkte in der Rückengegend nach. Er deutete mit dem Bleistift auf einen Punkt nach dem anderen und sagte: „ Juu häf ploblem hiel, hiel and hiel. Juu niiid plasster!“ „What?“ „JUU NIIID PLASSTER!“ Ich wollte gar nicht erst damit beginnen, ihm zu erklären, dass ich vor der Behandlung noch nicht solche Schmerzen hatte. Er wollte mir jedenfalls zwei Kräuterpflaster auf die besagten Stellen kleben, wodurch meine Schmerzen angeblich geheilt werden würden. Das sie pro Stück fünf Doller verlangten, hatte ich fast überhört. Ich teilte ihm dann laut mit, dass ich diese „Plasster“ nicht brauche, worauf eine rege Unterhaltung unter den chinesischen Mitarbeitern begann. Anscheinend hatte sich noch nie zuvor ein Kunde getraut „Nein“ zu dem Pflasterangebot zu sagen. Als ich mich langsam und quälend aufrichtete, sah ich, wie sie Anne bereits das vierte Pflaster auf den Rücken backten. Sie hatten auch ihr zuvor das Da Vinci Männchen, mit genau den gleichen Punkten, gezeigt und ihr klargemacht, wo sich ihre Problemzonen befinden. Das die Pflaster Geld kosten, hatten sie Anne gegenüber gar nicht erst erwähnt. Und nun sollten wir dafür auch noch zusätzliche zwanzig Dollar beraffen. Das war zu viel. Nun wurde ich laut und stritt mich aufgebracht über die Art und Weise uns hier irgendwelche Kräuterpflaster zu verkaufen.
Um es kurz zu fassen, ich gewann unsere kleine Auseinandersetzung. Wir brauchten die Pflaster nicht bezahlen. Wenigsten ein kleiner Höhepunkt nach dieser Tortur. Als wir dann aus dem Laden humpelten, konnten wir noch beobachten, wie die einzige Frau sofort begann, den Boden unter unseren Liegen aufzuwischen. Deshalb konnte ich vermutlich keine Blutspuren finden.
So verließen wir Cairns. Anne mit vier riesen Kräuterpflastern auf dem Rücken und ich mit mehr Schmerzen im Nacken, als zu Beginn.

Es war natürlich wieder ein eigenartiges Gefühl Cairns zu verlassen, aber wir kommen wieder. Das steht fest.Wir machten uns als erstes auf zu einem Regenwald, von dem wir wussten, dass man hier eine besonders gute Möglichkeit hat, ein Schnabeltier zu sehen. Diese Gelegenheit wollten wir uns dieses Mal nicht entgehen lassen. Wir waren bei unserem ersten Australienbesuch nämlich schon zweimal an diesem Regenwald vorbei gefahren.
Wenn man ein Schnabeltier beobachten möchte, muss man sehr früh aufstehen. Wir stellten unseren Wecker auf Zehn vor Fünf. Geweckt wurden wir aber etwas früher. Und zwar durch ein konstantes Hämmern oder Picken. Es kam von sehr nah. Wir bewegten uns sehr langsam an das Fußende unseres Bettes und entdeckten diesen Vogel, welcher mit Genuss von dieser Mango fraß. Er saß anfangs auf unserem Türabsatz. Ich meine…, wir haben keine Fenster im Bus und sind somit darauf angewiesen die Schiebetür und auch manchmal die Heckklappe aufzulassen. Es wäre ansonsten einfach zu heiß im Auto. Deshalb nehmen wir die Aussicht auf einen Tierbesuch auch auf uns. Der Vogel jagte uns natürlich keine Angst ein.
Das besondere aber war, dass unsere Mangokisten, wir hatten vier an der Zahl von unserer Arbeitstelle mitgenommen, weit unter dem Bett verstaut waren. Der Abstand zwischen dem oberen Rand der Kiste und unserem Bett war allerhöchstens zehn Zentimeter. Wie, um alles in der Welt, ist dieser Vogel fast einen Meter unter unser Bett gekrochen und hat sich dann auch noch diese riesen Mango aus der Kiste geholt? Wir können uns das bis heute nicht erklären.
Meine Theorie ist ja, dass er noch ein paar Kumpels dabei hatte, die dann gemeinsam das Bett, mit uns schlafend darauf, angehoben haben, um so die schmackhafte Frucht aus der Box zu klauen. Ich werde auch diese Angelegenheit definitiv mit dem nächsten Mechaniker besprechen. Durch diese Vogelattacke waren wir natürlich hell wach und machten uns auch gleich auf, dieses winzige und seltene Schnabeltier zu suchen. Wir mussten etwas durch den Busch laufen um an den Fluss zu gelangen. Aber kaum angekommen wurden wir auch schon fündig. Da tauchte es auf. Direkt neben seinem Kameraden, der Schildkröte. Diese kann man hier übrigens ziemlich häufig beobachten. Meine Theorie ist ja, dass die Tiere hier alle sehr gut miteinander befreundet sind. Wer weiß, was die hier schon alles abgezogen und geklaut haben?
Jedenfalls war es für uns etwas ganz besonderes dieses Tier bei seinem Frühstück zu zusehen.Es ging weiter Richtung Süden, wobei wir als nächstes Brisbane ansteuerten. Entlang an wunderschönen Stränden, an denen wir oftmals viele Tiere beobachten konnten und ich auch hin und wieder mein Angelglück versuchte. Manchmal mit und manchmal auch ohne Erfolg. Wir hatten uns durchaus schon wieder an das Travelleben gewöhnt und genossen unsere Zeit zusammen.
Die beiden Öllecks machten uns natürlich Sorgen, aber wir kamen schon klar. Das unser Radio nicht funktionierte, das die Lüftung nicht mehr lüftete und das die zwei Lichter im Innenraum nicht mehr leuchteten, darüber dachten wir schon gar nicht mehr nach.
Wenn wir fuhren, kühlte uns der Fahrtwind und wenn wir standen, schwitzten wir. In einem kleinen Ort, wir hatten so ungefähr die Hälfte der Strecke nach Brisbane hinter uns, geschah etwas nicht allzu gewöhnliches. Genau vor dem Eingang zu einem Supermarkt, wo wir gerade einkaufen wollten, saßen ein paar junge Mädchen. Eine von ihnen, sie war hier nur zu Besuch, spielte mit einer Schlange umher, als sei es vollkommen normal. Wir konnten es kaum glauben. Sie erklärte mir, es sei ihr kleines „Haustier“ und sei nicht giftig. Das genügte mir an Informationen, um nicht in Panik auszubrechen. So nahm ich sie in die Hände und begutachtete sie aus nächster Entfernung. Es war ein „Western Python“ und voll ausgewachsen. Was für ein wunderschönes Tier. Anne war bei der Sache jedoch nicht so wohl, und sie bevorzugte den sicheren Abstand zu diesem Reptil. Uns wurde so aber wieder vor Augen geführt, in welchem Land wir uns befinden. In einem Land, wo man unzählige giftige Schlange und Spinnen finden kann. Na hoffentlich wachen wir nicht mal eines Morgens auf, und haben eines dieser Biester in unserem Bett. Vielleicht sollten wir doch lieber unsere Türen im Van geschlossen halten.
Erreicht hatten wir Brisbane Anfang Februar, an einem Donnerstagabend. Wir sind quasi vor Tanias und Aarons Haustür gerollt, denn unser guter „Sammy“ war völlig erschöpft und verbrauchte deshalb wohl Unmengen an Öl und Wasser. Wie konnte es auch anders sein?
Diesmal war es die Zylinderkopfdichtung, die uns unser Leben erschweren sollte. Der hohe Ölverbrauch führte natürlich auch auf die zwei verbliebenen Öllecks zurück, aber eine Weiterfahrt war in diesem Zustand dennoch ausgeschlossen. Das gute aber war, dass ich somit früher als geplant die Gelegenheit bekam, einem Mechaniker all meine Theorien zu unterbreiten.
Auch konnten wir es nicht glauben, dass seit unserer letzten Begegnung schon über drei Monate vergangen waren, und freuten uns deshalb umso mehr, Tania und Aaron endlich wiederzusehen.

Malcom ist der Name unseres Mechanikers, dem wir die Reparatur der Zylinderkopfdichtung anvertrauten. Wir brauchten jedenfalls nicht lange nach ihm zu suchen.„Malcom, Malcom, Malcom…“
Malcom ist der Verkäufer unseres Vans „Sammy“. Er wurde weiß wie eine Kalkwand, als wir plötzlich vor seiner Tür standen. Damit hatte er nicht gerechnet, uns noch einmal wiederzusehen. Wir genossen den Augenblick.
In den meisten Fällen ist es nämlich unwahrscheinlich, dass ein Autoverkäufer, hier in Australien, den neuen Besitzer ein zweites Mal zu Gesicht bekommt. Vorausgesetzt der Käufer ist ein Reisender, so wie wir es sind. Denn diese besorgen sich ihr neues Gefährt, meistens eben einen Van oder einen Kombi, und machen sich danach auf und davon, um das große, weite Land zu erkunden. Und da Australien eineinhalb Mal so groß ist wie Europa, ist es eher ausgeschlossen, dass man sich erneut begegnet.
Diese Tatsache ist einigen Mechanikern selbstverständlich bewusst und sie versuchen demzufolge daraus ein Geschäft zu machen. Sie kaufen alte, schrottreife Vans oder Kombis zu Dumpingpreisen und reparieren sie auf billige Art und Weise. Manchmal bauen sie die Autos auch noch zum Schlafplatz um, was in unserem Fall ja nicht einmal ausgeführt wurde. Egal.
Danach werden sie jedenfalls an junge, ahnungslose Backpacker wieder teuer verscherbelt. Vor allem an diejenigen, die keine Ahnung von Autos haben. Ich muss gestehen, dass auch ich zu diesen Personen zähle, denn bei mir hört es nach dem Auftanken oder des Auffüllens des Scheibenwassers auch schon wieder auf mit meinem Latein. Für die Probleme, welche einen nach solch einem Autokauf dann einholen können, sind wir im Augenblick jawohl ein sehr gutes Beispiel. Auch Malcom verdient auf diese Weise sein Geld. Das wissen wir jetzt, im Nachhinein. Darum war dieser Überraschungseffekt, und ich meine er wurde wirklich weiß wie eine Kalkwand, für uns eine kleine Genugtuung. „Malcom, Malcom, Malcom…“
Wir unterhielten uns lange mit ihm über unsere Werkstattbesuche, zeigten ihm die dazugehörigen Rechnungen und erzählten ihm auch, was uns die anderen Mechaniker mit auf den Weg gegeben haben. Er hörte sich alles aufmerksam mit an und wir konnten beinahe fühlen, dass ihm die ganze Angelegenheit leid tat. Aber das war ein Irrtum. Ich erklärte ihm dann noch schnell meine Theorie unseres kaputten Autoradios und der folgenden Kettenreaktion. Auch erläuterte ich ihm die Annahme, dass alle Tiere des Regenwaldes gut miteinander befreundet sind und es deshalb fertig brachten, uns die schmackhafte Mango aus dem Auto zu klauen. Malcom nahm dazu keine Stellung und tat so, als habe er mich gar nicht gehört. Na wenigstens erklärte er sich bereit uns die Dichtung günstig zu wechseln. Um es genau zu sagen, so glauben wir jetzt, ist Malcom einfach von Natur aus so „billig“. Er repariert eben auch sein eigenes Auto am günstigsten, wundert sich dann aber offenbar jedes Mal, wenn seine Karre nicht mehr läuft.
Er ist wohl so. Immer alles billig und Second Hand, bloß nicht zu viel ausgeben. Ist ja auch in Ordnung, wenn es für ihn selbst funktioniert. Wir bevorzugen jedoch lieber ein „neues“ Ersatzteil im Auto. Einfach nur, um danach Ruhe zu haben. Sein Angebot, mir noch einen gebrauchten Ölfilter einzubauen, lehnte ich deshalb dankend ab. So machten wir uns im Endeffekt gemeinsam daran, den Motor in Einzelteile zu zerlegen, um die Zylinderkopfdichtung auszutauschen.
Öl tropfte, Wasser leckte und der Staub wehte. Keine vernünftige Werkstatt, unbrauchbares Werkzeug und die ganze Zeit die Weisheiten aus Malcoms Mund. „Das geht auch so!“, „Das brauchst du nicht.“, „Die anderen Mechaniker sind alle viel zu teuer.“ und „Das kann man auch alles billiger machen.“. Es war einfach nicht schön ihm bei seiner Arbeit zuzusehen. Auch nicht ihm zuzuhören. Aber was sollten wir erwarten? Wir waren froh die Sache schnell hinter uns zu bringen. Und wir brachten es schnell hinter uns. Zu schnell…, viel zu schnell.
Ich hatte doch keine Ahnung davon, was eigentlich beachtet und ausgeführt werden muss, wenn man eine Zylinderkopfdichtung wechselt. Der Zylinderkopf muss zum Beispiel maschinell abgeschliffen und überhaupt muss alles genaustens angepasst werden. Es geht hier um Millimeter. Auch darf kein Körnchen Dreck hinein gelangen, was bei Malcom beim besten Willen nicht möglich war. Ich meine, alles wurde auf dem staubigen Boden erledigt. Eine Werkbank gab es nicht. Den Zylinderkopf hat er mit einem Handschleifgerät bearbeitet und erzählte mir dabei noch, dass es so auf jeden Fall ausreichen würde. Und ich „Idiot“, habe ihm das alles noch geglaubt. Das diese „Drecks-Arbeit“ jedoch, nur einige Wochen später, zu unserem bis hierher größten Abenteuer, sowie beinahe zu unserem finanziellen „Aus“ führen würde, konnten wir zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht erahnen. Nach nur wenigen Stunden war alles erledigt. Der Motor hatte nun seine „neue“ Dichtung und einen „neuen“ Ölfilter.
Wir waren bereit für den Aufbruch. Der Weg führte uns als nächstes nach New South Wales. Die Provinz New South Wales ist doppelt so groß wie Deutschland, hat circa sechseinhalb Millionen Einwohner und war früher der Ausgangspunkt für die europäische Besiedelung durch Kapitän Cook. Die Küstenregion ist jedenfalls ziemlich dicht besiedelt. So fuhren wir zwar durch wunderschöne Orte, bekamen von der „wilden“ Natur Australiens dagegen aber etwas weniger mit.
Bis zu diesem regnerischen Morgen an einer Raststelle. Da war sie. Sie hing an der Innenseite unserer Fensterscheibe. Sie war riesig und beobachtete uns genau. Ihre Haare standen aufrecht und ihre Fangzähne trieften vor Blutdurst. Jemand hatte uns in die Falle gelockt. „Wie konnte das sein?“ Wir waren steif vor Angst. Jede Bewegung könnte in diesem Augenblick unsere letzte sein. Wir hatten aber keine Zeit mehr darüber nachzudenken wie so etwas geschehen konnte. Es gab keinen Ausweg mehr für uns. Wir mussten kämpfen um sie aus dem Auto zu bekommen. Aber wie? Uns gingen viele Varianten, sie zu vertreiben, durch unsere Köpfe. Mit einem Speer zum Beispiel, einem riesen Messer, oder gar mit einem magischen Licht, so wie Frodo es in „Herr der Ringe“ tat.
Aber nichts davon hatten wir rechtzeitig zur Hand. Uns blieb nur ein Handfeger, aber nicht mehr viel Zeit. Sie bewegte sich nämlich gerade Richtung Innenraum. Anne schrie auf und weigerte sich, dieses mal ernsthaft, an dieses Ungeheuer heranzutreten. Ich meine, diese Spinne war riesig. Wir haben noch nie ein Tier dieser Größe gesehen. Wenn ich sagen würde, sie war so groß wie meine Hand, müsste ich lügen. Sie war größer. Meine Finger sind nämlich nicht so lang, aber das ist ein anderes Thema. Die Spinne bewegte sich zu unserem Glück nicht schnell genug und ich konnte sie mit einer raschen Bewegung von der Tür fegen. Bei meiner Spinnenphobie war dieser Moment die reinste Hölle. Anne schrie aus Angst und wir beide schüttelten uns vor Erleichterung als Godzilla in einem Busch verschwand.Wir wissen bis heute nicht, wie diese Spinne in das Auto gelangt ist. Wir hatten nämlich in dieser Zeit nachts alle Türen verschlossen, da es viel regnete. Der Gedanke, wir hatten sie schon eine ganze Weile im Auto mitgeführt, bereitet uns immer noch Panik.
Alles was wir bis heute wissen ist, sie war nicht giftig. Und so ging es weiter. Der Schock steckte zwar noch etwas in unseren Knochen, aber dennoch gingen wir Stück für Stück wieder in unseren Travelalltag über. Wenn wir müde waren, schliefen wir, wenn wir hungrig waren, aßen wir und wenn wir tanken mussten, tankten wir. Der Regen machte uns zwar etwas zu schaffen und unser Budget verringerte sich auch dramatisch, aber wir waren guter Hoffnung.
Als wir in Sydney hereinfuhren, ging die Sonne auf. Wir haben das aber keineswegs als ein Zeichen aufgefasst. Gefreut haben wir uns dagegen riesig. Denn bei blauem, wolkenfreiem Himmel vor dem berühmten Opernhaus zu stehen, macht diesen Moment unvergesslich. Sydney hat so ungefähr vier Millionen Einwohner und ist somit nicht nur die größte City New South Wales, sondern auch Australiens. Ich glaube man könnte sein ganzes Jahr hier verbringen und würde noch nicht einmal die Hälfte dieser gewaltigen Metropole kennenlernen. Wir waren vor genau vier Jahren schon einmal hier. Eigentlich waren wir zweimal hier, saßen vermutlich sogar beide Male an der gleichen Stelle um das Treiben vor Ort zu beobachten. Der Anblick Sydneys Skyline, des Opernhauses oder gar der Hafenbrücke ist jedoch immer wieder beeindruckend.
Es macht einfach Spaß hier zu verweilen und die Aussicht zu genießen. Genau das taten wir. Wir entschieden uns aber, nicht in Sydney zu übernachten. Wir wollten weiter. Unser nächstes Ziel lag bereits in der nächsten Provinz, in Victoria. Bairnsdale ist der Name der kleinen Stadt, in der wir uns wieder auf Arbeitssuche begeben wollten. Wir hatten in Erfahrung gebracht, dass dort eine Menge Farmarbeit zu finden sei, also machten wir uns auf. Auf dem Weg erfuhren wir, dass Frank und Nicole bereits in Bairnsdale Stellung bezogen und sogar schon auf einer Farm Arbeit gefunden haben. Das freute uns sehr und wir besuchten sie natürlich, als wir nach Bairnsdale kamen. Sie wohnten auf einem Zeltplatz, in einer kleinen Hütte. Für uns jedoch kam alles schneller als erwartet. Wir zogen mit in die Hütte, da es im Van nachts zum Schlafen einfach zu kalt wurde und wir bekamen einen Job auf der gleichen Farm. Klingt alles sehr vorteilhaft. Das Problem aber war, wir bekamen so wenige Stunden in dem Bohnenpackhaus, dass wir davon nicht einmal die Miete hätten bezahlen können.So kam es eher, dass wir mit den beiden einen kleinen Urlaub in Bairnsdale verbrachten. Wir fuhren zu verschiedenen Stränden, in einige andere Städte und angelten viel in dem Fluss genau vor der „Haustür“.
Es konnte so aber natürlich nicht weiter gehen. Wir mussten Geld verdienen. Also begannen wir zur viert die Umgebung nach Farmarbeit abzuklappern. Leider vergeblich. Es sollte nicht sein. Anne und ich hatten allerdings noch einen kleinen Trumpf im Ärmel. Vor vier Jahren haben wir in Shepparton gearbeitet. Shepparton liegt circa zweihundert Kilometer nördlich von Melbourne und somit ungefähr fünfhundert Kilometer von Bairnsdale entfernt. Aber dort war Arbeit für uns. Und so kam es. Wir brachen die Zelte ab und machten uns auf den Weg nach Shepparton.
An einem Sonntag fuhren wir los. Es war kalt, als wir morgens um acht in unsere Autos stiegen. Unser Van „Sammy“ zeigte uns durch mehrere Fehlzündungen, dass auch ihm die Kälte ziemlich zu schaffen machte.
„Peng!“ Motor aus. Und wieder: „Peng!“. Der halbe Zeltplatz war wach. Es war so laut, dass wir im ersten Augenblick glaubten, auf uns würde jemand schießen. Aber nein. „Peng!“. Es dauerte etwas, aber jetzt blieb der Motor am Laufen. Das war gut. Somit konnten wir die fünfhundert, vor uns liegenden Kilometer auf uns nehmen. Immerhin sollten wir am nächsten Tag bereits mit der Arbeit im Packhaus beginnen. Wir hatten alles zuvor telefonisch geregelt, um den langen Weg nicht umsonst fahren zu müssen.
Karen, die Vorarbeiterin des Packhauses, hatte uns nicht vergessen. Sie erinnerte sich noch sehr gut an unsere gemeinsame Zeit vor vier Jahren. Anfangs konnte sie es gar nicht glauben, uns noch einmal wieder zu sehen. Ihre Freude war jedenfalls groß. Wir hatten wohl einen guten Eindruck hinterlassen? Leider konnte sie uns nur zwei bis drei Wochen Arbeit zusagen, aber das war im Augenblick besser als gar keine Beschäftigung.
Nach ungefähr acht Stunden Fahrt, erreichten wir Shepparton. Auch hier überkam uns das Gefühl des „nach Hausekommens“. Nicht so sehr wie in Cairns, aber dennoch erinnerten wir uns immer noch sehr gut an diese kleine, einsame Stadt. Es gibt hier wirklich nichts zu sehen. Keine Sehenswürdigkeiten, wenige Geschäfte und auch die Natur im Umkreis lässt zu wünschen übrig. Dennoch trifft man hier auf viele Backpacker, da Shepparton fast das ganze Jahr über viel Farmarbeit zu bieten hat. Aber es war nicht unbedingt der Ort, der eine schöne Erinnerung in uns wach rüttelte. Es waren die Leute. Die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft ihrer, waren uns gut im Gedächtnis geblieben.
So freuten wir uns auf unseren morgigen, „zweiten“ Arbeitsbeginn in diesem Packhaus. Wir mieteten uns für die eine Nacht auf einem Zeltplatz ein, um wenigstens noch eine warme Dusche genießen zu können. So schliefen wir dann etwas später tief und fest in unseren Autos. Frank und Nicole in ihrem Kombi und wir in unserem Van.
„Peng!“ Da war er wieder. Der grässlich laute Knall. Und wieder: „Peng!“ Ui…, na das war ungewöhnlich. Es war sehr warm an diesem Montagmorgen. Ich hatte geglaubt die Fehlzündungen vom Vortag waren das Ergebnis der niedrigen Temperaturen und somit nur eine „Eintagsfliege“. Aber ich muss mich dabei geirrt haben. Es wäre ja auch zu schön, einmal keine Probleme mit unserem „Sammy“ zu haben. Nach dem dritten Donnerschlag stotterten wir langsam los. Auf zur Arbeit. Wir waren beinahe drei Kilometer vom Zeltplatz entfernt und so ungefähr siebzig Kilometer pro Stunde schnell, als es erneut knallte. „Päng!“ Aber dieser Knall war anders. Wir starrten uns an. „Ich hab Angst.“, sagte Anne noch, bevor sich unsere Gesichtsfarbe zu einem reinen Weiß verwandelte. Denn die Tatsache, dass er nicht aus dem Auspuff kam, sonder von vorne links, war für uns Anlass zur Panik. Das wir etwas anfingen zu schleudern war ebenfalls Grund genug für unsere Bleichheit.
Die Geräusche die folgten waren nicht schöner. Ein lautes Schleifen und ein konstantes Schlagen gegen Metall versicherten uns, dass uns hier etwas Schlimmes widerfahren war. Wir stoppten am linken Rand des Highways um nachzuschauen, was uns diesen Schrecken verursacht hatte. Es war das Radlager. Aber wir hatten keine Wahl. Wir wollten an unserem ersten Arbeitstag nicht zu spät kommen und fuhren, oder besser noch wackelten, mit zehn km/h, die letzten vier Kilometer, durch die Dunkelheit, bis zum Packhaus. Wir rollten quasi vor die Tür. Vor vier Jahren, sogar fast auf den Tag genau, fuhren wir gleichermaßen auf den Betriebsparkplatz. Damals war uns eine Eisenstange unter unserem fünfunddreißig Jahre alten VW-Bus abgebrochen. Ich schnürte sie zu jener Zeit mit einem Paketband fest, denn auch sie verursachte ein permanentes, lautes Hämmern unter dem Auto.
Das Positive somit war, dass wir dadurch genau wussten, wo sich der nächste Mechaniker im Umkreis befindet. Er half uns damals schon mit der Eisenstange und wäre deshalb vielleicht auch in der Lage uns ein neues Radlager einzubauen. Das Negative allerdings war, dass er für die nächsten eineinhalb Wochen Urlaub machte. So kam es, dass unser Van „Sammy“ aufgebockt und fahrunfähig die besagte Zeit verbrachte. Aber es war alles halb so wild. Denn Frank und Nicole halfen uns glücklicherweise aus. Sie nahmen uns mit zur Arbeit und auch das Einkaufen erledigten wir gemeinsam. Wir waren wirklich sehr froh darüber, nicht allein hier in Shepparton gelandet zu sein.
Wir konnten es kaum glauben, dass wirklich schon vier Jahre vergangen waren, seit wir hier zum ersten Mal gearbeitet hatten. Es kam uns eher vor, wie vier Wochen. Es hatte sich nicht viel verändert. Einige neue Mitarbeiter natürlich, aber viele bekannte Gesichter begrüßten uns. Da war als erstes Karen. Sie hatte einst noch als Packerin gearbeitet und war mittlerweile zur zweiten Personalmanagerin aufgestiegen. Sie ist sehr lustig und man merkt förmlich, wie ihr die Arbeit Spaß macht. Mike ist ihr Boss. Er ist erst seit zwei Jahren hier im Betrieb, wir aber kamen von Anfang an super mit ihm klar.
Dann trafen wir auf Glanice. Oh Glanice. Sie ist eine etwas ältere, sehr gläubige Frau. Wir waren damals bei ihr zum Essen eingeladen. Als wir auf ihr Grundstück fuhren, verdeckte ein riesen Schild den Anblick des Hauses. Auf diesem stand: „Jesus is alive!“. Das war gut zu wissen. Es beunruhigte uns dennoch etwas, da wir durch dieses Schild schon vermuten konnten, was auf uns zukommen würde. Glanice’s Mann begrüßte uns mit starrem Blick an der Tür. Er war gruselig. Wir hatten über ihn gehört, dass er des Öfteren im Stadtzentrum predigt. Ist ja auch in Ordnung, bloß er täte dieses auch bei strömendem Regen, was uns dann doch stutzig werden ließ.
Dass wir in der Lage waren, von Australien aus, mit unserem Mobiltelefon, mit Freunden in Deutschland zu kommunizieren, betrachtete er als ein absolutes Wunder. „This is a miracle. This is a miracle.“, stöhnte er mehrmals, kopfschüttelnd vor sich hin. Als ich ihm versucht hatte zu erklären, dass es auch ein bischen mit Technik zusammen hängt, verneinte er es streng und behauptete sogar etwas lauter: „This is a miracle. This is a miracle.“ Dieses Mal hob er dabei sogar seine Hände in die Höhe, um sich wahrscheinlich für unser Handy persönlich bei Gott zu bedanken. Nach dem Abendessen, bei welchem eigentlich nur über die Kirche gesprochen wurde und wir uns noch einige Male „This is a miracle. This is a miracle.“, mitanhören durften, gab Glanice uns noch ein kleines, selbstgebundenes Büchlein mit auf den Weg. Ihr Ehemann hatte es geschrieben, um seine Erleuchtung, auf diesem Wege, in der Welt zu verbreiten. Es ging, um es kurz zu fassen, darum, dass Glanice ihn vor einigen Jahren verlassen wollte. Er war deshalb wohl so verärgert gewesen, dass er ernsthafte Überlegungen anstellte sie umzubringen. Sollte er sie erschießen, erstechen oder erwürgen? Aber wenn nicht umbringen, dann vielleicht doch einfach nur die Kniescheiben rausschießen. So stand es da im Buch. Als er jedoch kurz vor der Vollendung seiner Tat war, fiel er wohl zu Boden und Gott begegnete ihm. Sein Leben hatte sich seitdem geändert. Alles sei jetzt ein Wunder. Ob nun unser Mobiltelefon oder einfach nur die Kaffeekanne.
Das er sich vermutlich bei seinem Fall zu Boden, bösartig den Kopf gestoßen hatte, darüber stand da nichts. Wir erfuhren, dass Glanice es noch einmal mit unserer Bekehrung versuchen wollte. Aber da wir keine Lust auf ein zweites Abendessen mit ihrem Ehemann hatten, hielten wir etwas Abstand und die Sache regelte sich somit von allein. Wir trafen auch Bernie wieder. Bernie ist die Mutter von zwei Staplerfahrern hier im Packhaus. Sie selbst ist Packerin und eigentlich das genaue Gegenteil von Glanice. Wenn man sich mit ihr unterhält, hört man wahrscheinlich nach dem zwanzigsten Gebrauch des berühmten „F-words“ auf zu zählen. „F…“ hier, „F…“ da. Man konnte förmlich mitanhören, wie viel Freude ihr die Arbeit bereitete. Glanice hätte es möglicherweise bei ihr sehr schwer, eine Bekehrung ihrerseits zu vollziehen. Aber Bernie war in Ordnung. Sowie Brenda. Brenda ist etwas füllig, groß, sehr freundlich und zuvorkommend. Ihre Haare hatte sie immer zu einem Dutt geflochten. Sie zog dabei ihre Haare so stramm nach hinten, dass sich dadurch ihre Backen zu einem breiten Grinsen formten. Das sah komisch aus, unterstrich aber ihre Freundlichkeit umso mehr.
Anne unterhielt sich gerne mit ihr, da Brenda immer bestens über alles bescheid wusste. Es war einfach schön wieder hier zu sein. Die Arbeitsatmosphäre war ein großer Unterschied zu einigen anderen Stellen, an welchen wir bereits arbeiteten. Nicole und Anne verpackten somit die leckeren Pfirsiche, Nektarinen und Pflaumen. Frank und ich waren für das Stapeln der Boxen verantwortlich. Wir hatten eine Menge Spaß, auch wenn dieser Job eintöniger nicht sein kann. Aber was will man machen?
Quartier durften wir in einem Apfelfeldfeld beziehen. Hier standen noch zwei drei verfallenen Hütten, wobei eine von ihnen eine Küche bot. Drei funktionierende Kühlschränke, eine Mikrowelle und sogar einen Herd konnten wir dort benutzen. Die anderen beiden Verschläge dienten noch manch einmal als Unterkunft für einige Arbeiter, in welchen am Anfang noch drei Mädels aus Norwegen und zwei Australier hausten. Auch wir hätten in eine dieser morschen Hütten ziehen können, zogen es allerdings vor, in unserem aufgebockten Van zu schlafen. Frank und Nicole in ihrem Zelt, welches sie genau neben unserem Auto aufbauten. Wir legten uns ein Stromkabel aus der Küchenhütte und waren zufrieden. Die Bretterbuden waren wirklich schon so sehr zerfallen, dass man aufpassen musste, wo man hintrat, um nicht komplett durch den Holzfußboden zu brechen. Daher bauten wir unseren Gaskocher draußen auf und wechselten uns täglich mit dem Kochen ab. Wir konzentrierten uns dabei alle vier auf asiatische Küche wodurch wir jeden Abend ein kleines Festmahl genießen konnten.
Dreißig Meter weiter stand noch ein Kabuff, in welchen sich zwei Duschen und zwei Toiletten befanden. Abgesehen davon, dass es in allen Ecken und Kanten zog wie Hechtsuppe, war es für uns absolut ausreichend. Nach einigen Tagen wurden wir durch einen lauten Angstschrei von einem der beiden Australier aufgeschreckt. Er befand sich gerade auf der Toilette und als er diese verlassen wollte, versperrte ihm eine Schlange den Weg. Wir rannten um zu sehen was geschehen war. Und da war sie. Ein fünfzig Zentimeter langes, grau gestreiftes Reptil. Der Australier war gezwungen durch eine der vielen Öffnungen im Dach zu klettern, da die Schlange nicht den Eindruck erweckte, aus unserem „Badezimmer“ zu verschwinden. Sein Kumpel schnappte sich sein himmlisches Wunder, sein Mobiltelefon, und rief einen lokalen Service an, welcher sich um solche „giftigen“ Angelegenheiten kümmert. Und da er mit seinem Telefonat beschäftigt war, wurde mir die Aufgabe zu Teil, die Schlange nicht aus unserem „fünf Sterne“ Salon ausbüchsen zu lassen.
Mit einem Besen bewaffnet machte ich mich an die Arbeit. Ich ging selbstbewusst auf die Schlange zu um ihr zu zeigen, dass mein Besen nichts war, mit dem man sich anlegen sollte. Sie zischte und kam auf mich zu. Ich fegte. Ich glaube, wenn ich in diesem Moment gewusst hätte, dass diese Kreatur eine ausgewachsene Tiger Schlange war, und somit in die Kategorie der fünf tödlichsten Schlangen Australiens fiel, wäre ich schreiend und armewedelnd davongelaufen. Aber ich hatte keine Ahnung. Ich dachte noch: „Ach,…die ist doch nich so groß. Die hältst im Schacht.“ Und da stand ich nun mit meinem Kehrgerät und musste das giftige Zischen ertragen.
Es war bereits dunkel und alle anderen hatten sich verzogen. Der Australier war immer noch am Telefon und erfuhr gerade, dass der Service eine Menge Geld kosten würde. Aber wir kamen nicht mehr dazu uns ausreichend über den Preis zu unterhalten, denn ich hatte den Kampf verloren. Die Schlange bemerkte sehr schnell dass mein Handfeger keine Gefahr darstellte und kam langsam und gezielt Richtung Eingang. Ich konnte nichts mehr machen. Ich glaube sogar noch ein Lachen ihrerseits gehört zu haben, bevor sie sich unter dem Brett, welches vor dem Eingang lag, versteckte. Wir sahen sie nie wieder. Aber die Angst war uns allen anzusehen. Wie leichtsinnig wir doch vorher gewesen sind. Nie haben wir eine Lampe benutzt, wenn wir im Dunkeln noch auf die Toilette mussten, oder aus der Küche kamen. Aber damit war ab diesem Zeitpunkt Schluss. Wir kramten unsere Taschenlampen heraus und Anne besorgte sich nach einigen Tagen auch gleich noch ein „Headlight“.
Ein Headlight ist eine kleine, aber sehr ergiebige, Lampe, welche man sich um die Stirn bindet. Sie ist nicht schwer aber wirklich sehr hell. Ich konnte mir keine kaufen, da ich mir ein längeres Stirnband hätte besorgen müssen. Bei meinem dreiundsechzig Komma fünf Zentimeter Kopfumfang, hätte sich das Band deutlich in meine Stirn geschnitten und vermutlich viele Schmerzen verursacht. Aber das ist ein anderes Thema. Ich bevorzugte deshalb eben lieber eine normale Taschenlampe.
Im Nachhinein war ich jedoch überaus froh darüber, keines dieser Kopflichter zu benutzen. Denn jeden Abend, wenn Anne sich dieses Teil umschnallte, wurde sie automatisch der Anziehungspunkt aller Insekten im Umkreis von siebenhundert Metern. Und diese Insekten hier in Australien sind keine Insekten,…es sind Monster. Größer als Kastanien ballerten sie Anne, jeden Abend, wie Hagelkörner ins Gesicht. Anne hielt es nicht lange aus. Sie war auch schon ganz heiser vom laufenden Schreien. Deshalb schränkte sie die Benutzung dieses Headlight’s auf Nötigste ein. So verging die nächste Zeit wie im Fluge.
Wir arbeiteten fleißig, kochten asiatisch und die gelegentlichen Spinnenbesuche störten uns bald schon nicht mehr so sehr. Die Red Back Spinne, eine weitere, tödliche Gefahr Australiens, welche sich unter unserem Waschbecken im „Badezimmer“ einnistete, störte uns wenig. Sie war tagsüber eh nicht zu sehen. Und da sie sich nachts nur in ihrem Netz aufhielt, brauchten wir uns nicht zu sorgen.
Nach zwei Wochen war es soweit. Unsere Arbeit war, wie Karen es voraus gesagt hatte, leider schon beendet, aber wir bekamen Besuch. Frank und Nicole hatten sich mit Weidi und seiner Freundin Harnie verabredet. Sie waren zuvor ein ganzes Jahr in Neuseeland gewesen. Nun wollten sie, gemeinsam mit den anderen beiden, fünf Wochen Australien genießen, bevor Weidi und Harnie ihre Heimreise antreten würden. Harnie hatten wir zuvor nur von Fotos gekannt. Weidi dagegen kennen wir schon annähernd zehn Jahre. Er hatte vor vier Jahren, sogar fast auf den Tag genau, seinen einjährigen Australienaufenthalt begonnen. Er war damals sozusagen unsere Ablösung. Wir hatten unser Jahr hier fast beendet und Weidi kam zu jener Zeit mit einer guten Bekannten nach „Down Under“. Beide kauften unseren VW-Bus „Mo“, mit dem auch sie die Umrundung dieses Kontinents in Angriff nahmen.
Und so kam es, dass wir Weidi ein zweites Mal, hier in Shepparton, vom Busbahnhof abholten. Was für ein Zufall. Unsere Erde ist so riesig und wir treffen Weidi ein zweites Mal hier in dieser abgelegenen Stadt Australiens. Es ist kaum zu glauben. Aber das Wiedersehen war schön. Auch Harnie ist sehr nett und wir alle machten uns erst einmal ein schönes Wochenende gemeinsam in einem Nationalpark am berühmten Murray River.
Wir angelten, bereiteten unser Essen am Feuer und erzählten viel. Danach begannen die vier ihren geplanten Trip. Wir dagegen mussten noch einige Tage hier in unserer „Geisterstadt“ ausharren, da wir natürlich noch einige Autoreparaturen vor uns hatten. Wir fühlten uns etwas verlassen, hier so ganz allein, umgeben von all den Spinnen und Schlangen. Die Zeit verging jedoch schnell. Der Mechaniker, auch er konnte sich noch an uns erinnern, kümmerte sich hervorragend um unsere Probleme am Auto. Er erneuerte das Radlager und beseitigte die Fehlzündungen. Nur drei Tage später waren wir wieder fahrbereit. Nun nahmen auch wir die Strecke Richtung Westen in Angriff. Wir hatten anfänglich noch überlegt alle zusammen zufahren, aber diesen Gedanken schnell wieder beiseite geschoben. Gewiss wäre es sicherer gewesen, aber durch unsere Filmarbeit hätten wir die Vier nur aufgehalten. Aber wer weiß, vielleicht treffen wir uns nicht bloß in Deutschland wieder?
Es war fantastisch, einfach unbeschreiblich. Wir waren so froh. Es war so schön, dass es uns im ersten Moment vorkam, als wäre alles nur ein Traum. Wir saßen doch tatsächlich in unserem Van „Sammy“ und alles war heil. Kein Problem mehr. Alles war repariert. Die morgendlichen Fehlzündungen waren wieder richtige Zündungen, das Radlager „lagerte“ wieder und wir zogen keine Ölspur mehr hinter uns her.
Wir konnten es nicht fassen. Der Mechaniker hatte uns die beiden Öllecks für unter dreihundert Dollar repariert. Wollte der andere Heini, oben in Mareeba, nicht sieben- bis achthundert Dollar dafür kassieren? Wie bitte schön geht denn so was? Wir hatten aber keine Lust mehr, darüber nachzudenken, wie uns das Geld aus der Tasche gezogen werden sollte. Alles war wieder in Ordnung. Der Mechaniker musste laut lachen, als er unsere Freude spürte. Er hat bestimmt gedacht wir haben total einen zu laufen. Immerhin schuldeten wir ihm über fünfhundert Dollar, fielen uns aber trotzdem vor Freude in die Arme. Solche Kunden hat er gewiss gerne. Hoher Rechnungsbetrag und wir freuen uns mit Umarmungen. Aber er kannte halt nicht unsere gesamte Vorgeschichte.
Der Höhepunkt unserer Freude war jedoch, als ich beim Ausfegen der Fahrerkabine gegen die Kabelwirtschaft unter unserem Armaturenbrett stieß und dadurch doch tatsächlich unser antikes Autoradio wieder zum Laufen gebracht hatte. Es war unglaublich, da war Musik. Zwar nur aus einer Box und mit Rauschen gemischt, aber für uns klang es wie Dolby Surround. Auch das Licht leuchtete wieder in unserem Fahrerhäuschen. Es hing also alles nur mit einem Wackelkontakt zusammen. Wer konnte das schon erahnen? Aber nun waren unsere Sorgen dahin und ein Gefühl, welches uns in den letzten sechs Monaten verborgen blieb, war zurückgekehrt. Wir waren glücklich.
So ging es am nächsten Morgen endlich los. Auf in Richtung Westküste. Es waren zwar noch einige Kleinigkeiten außer Funktion, das breite Grinsen verschwand trotzdem nicht aus unseren Gesichtern. Da war zum Beispiel die Lüftung. Sie blies auf vollen Touren, aber leider erreichte immer noch kein einziges Windchen unsere Frontsitze. Auch das Licht in der Hinterkabine blieb dunkel und durch den linken Außenspiegel beobachtete ich weiterhin nur das linke Vorderrad, aber unser „Sammy“ surrte dafür wie ein Kätzchen.
Unser Weg führte uns dieses Mal durchs Landesinnere. Vor vier Jahren waren wir nämlich hauptsächlich auf Küstenstrassen gefahren und wollen nun, so oft es möglich ist, auch andere Gegenden für uns entdecken. So kamen wir entlang vieler Wälder, ausgetrockneter Flüsse und dürrer Weideflächen. Die rote Erde und der unbeschreiblich blaue Himmel verliehen uns wieder ein gewisses Maß an Abenteuerlust. Wir waren wieder unterwegs und zum ersten Mal ohne Probleme mit unserem Auto. Wir hätten schreien können vor Glück. Alles sah auf einem Mal viel schöner aus. Am Abend gelangten wir in einen Sandsturm, welchen wir uns hätten nicht gewaltiger vorstellen können. Der Himmel war nicht mehr blau, sondern gelb. Ich hatte Probleme das Auto gerade zu lenken um nicht von der Strasse gepustet zu werden, und die Luft schmeckte trotz geschlossener Fenster sandig.
Ein Windstoss. Das Auto wackelte. Wir schrieen: „Whoooo!“ Noch ein Schub. „Whoooo!“ Uns konnte nichts mehr unterkriegen. „Whooaa!“ Wir hatten sogar etwas Spaß dabei, diesen Sturm mitzuerleben. Ich sagte ja bereits: „Alles sah auf einem Mal viel schöner aus.“
Am nächsten Morgen erwachten wir voller Tatendrang. Da war auch das Grinsen wieder. Was für ein schöner Morgen. Die Sonne ging gerade auf und der Himmel färbte sich somit wieder blau. Nach Cornflakes und Kaffee machten wir uns auf. Immerhin wollten wir an diesem Tag wieder einige Kilometer bewältigen. Nach einer Weile kehrte ein nur zu bekanntes Bild in unser Auto zurück: Ich lauschte zu dem Krächzten, welches aus dem linken Lautsprecher schallte, in der linken Hand meine Kaffeetasse und in der rechten Hand das Lenkrad, auf dem ich mit zwei Fingern den Takt mitklopfte. Eigentlich war es mehr ein Schnarren, aber ich meinte da doch wirklich ein paar Melodien erkannt zu haben. Anne dagegen kämpfte wieder einmal vergebens gegen den Schlaf. Ihr Mund stand dabei offen und ich war mir sicher, dass sich darin schon so ordentlich Spucke angesammelt hatte und nun jeden Moment auf ihr rotes Oberteil zu tropfen drohte. Ihr Kopfwippen würde die Sache bestimmt zusätzlich beschleunigen.
Es ist seltsam mit ihr. Sie schläft die ganze Nacht hervorragend durch, wacht nach mindestens neun Stunden frisch und munter auf und sobald wir im Auto sitzen, fallen ihr erneut die Augen zu. Sie meint, es läge an der Eintönigkeit der Strecken. Alles sieht gleich aus und es geht sowieso immer nur geradeaus. Ich glaube eher, das Motorgeräusch versetzt sie in so einen Trancezustand, wobei sie immer tiefer in eine andere Dimension gerät. Aber das ist nur eine Theorie meinerseits. Spannend wird es jedenfalls, wenn ich sie plötzlich nach dem Weg fragen muss. „Annemaus, wo müssen wir lang?“ Dann schnellt sie voller Schrecken hoch, den Autoatlas noch auf dem Schoss, und antwortet irgendetwas. Ihr ist es nämlich unangenehm andauernd einzuschlafen und antwortet deshalb lieber spontan, ohne eigentlich zu wissen, wo wir sind, oder welche Richtung wir einschlagen müssten. Vor nicht allzu langer Zeit lautete die Antwort: „Links lang, Hasi!“. Diese Auskunft beförderte uns auf eine zig Kilometer lange Sandstrasse, die wahrscheinlich nur für Allradfahrzeuge gedacht war. Sehr weit aber kamen wir nicht, denn unser schwer beladenes Auto hatte gegen den losen Sand keine Chance. Nach nur wenigen Umdrehungen steckten wir so weit im Boden fest, dass die Ölwanne bereits auf dem Sandbett lag.
Da ruhten wir nun inmitten eines riesigen Waldes, und ich versuchte vergeblich unser Auto freizuschaufeln. Ich konnte es nicht fassen. Anne behauptete tatsächlich genau gewusst zu haben, wo wir uns befänden. Sie meinte auch, dass diese Route eine Abkürzung sei. Ja, genau. Sie gab erst nach einer kleinen Weile schüchtern zu, wieder geschlafen zu haben. Sie sagte „Das kann doch mal passieren.“ und setzte sich selbstbewusst ans Steuer. Nun versuchte sie eigenständig unseren Sammy aus dem Treibsand zu fahren. Sie wollte wohl ihren kleinen Fehler wieder wettmachen? Dass sie uns jedoch bei ihren Anfahrversuchen, wobei sie das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrat, immer tiefer in den Sand beförderte, bemerkte sie nicht. Der Motor raste. Ich schrie aus voller Kehle: „Stopp! Aufhören! Hör auf Anne!“ Anne aber schrie: „Schieb, schieb,…schiiiiiieeeeeb!“, und trat das Gaspedal erneut bis zum Aufheulen des Motors durch. Der Dreck flog mir dabei in solchen Massen um die Ohren, dass ich meine Hand hätte nicht mehr vor Augen sehen können. Bei Versuch „Stopp!“ zu schreien, spuckte ich nur noch Erde. Wir hatten keine Möglichkeit das Auto zu befreien. Es hätte wahrscheinlich eine halbe Ewigkeit gedauert es herauszubuddeln.
Aber wir hatten Glück. Nach einiger Zeit kam jemand vorbei, der uns aus dieser Falle befreien konnte. Es wird halt nicht langweilig mir meiner Annemaus, die sich übrigens schon den Spitznamen: „The Navigator“ eingehandelt hat. So fuhren wir Kilometer für Kilometer durch die Landschaft und es war wieder herrlich sie bei ihrem vergeblichen Kampf gegen den Schlaf zu beobachten. Ich bin in diesen Momenten sehr froh, dass sie den Sicherheitsgurt umgelegt hat. Ansonsten würde sie wohl spätestens beim dritten Kopfsacken auf das Armaturenbrett knallen.
Doch dann, unsere Fahrt verlangsamte sich plötzlich rapide. Es war so, als würde uns frontal ein heftiger Windstoss erfasst haben, der uns nun mit voller Kraft nach hinten drückte. Ich hörte gerade Musik aus dem Rauschen des einen Lautsprechers heraus, und Annes Kopf sackte nebenbei hoch und runter, so als würde sie im schlaf versuchen den Takt zu halten, als wir zurück gebremst wurden. Ich hatte das Gaspedal jedoch normal durchgetreten. Es war schockierend. Anne riss ihre Augen wieder auf. Wir sahen uns an und wussten: „Hier stimmt was nicht.“
Ganz egal, was ich unternahm und wie weit ich das Gaspedal betätigte, wir verloren an Fahrt. Meine Augen fuhren wild umher. Ich hatte wohl gehofft durch einen Zufall die Ursache für diese Verlangsamung zu finden. Aber nein, es war nichts zu entdecken. Der dritte Gang funktionierte noch vernünftig, aber sobald ich in den vierten wechselte, wurden wir langsamer als zuvor. Wir kannten diese Symptome. Bei unserem ersten Australienbesuch durften wir schon einmal diesen Schrecken miterleben. Damals war es unser alter VW-Bus „Mo“. Deshalb wussten wir beide, dass es nur eines bedeuten konnte: „Zylinderkopf!“.
Wir erreichten die nächstgelegene Werkstatt nach einer Stunde und einer nur allzu schweißtreibenden Fahrt. Mit nur vierzig Kilometern pro Stunde rollten wir wieder einmal vor die Tore eines Mechanikers. Es regnete. Die ganze Zeit über durchdrangen uns Fragen sowie Aussichtslosigkeit wie Messerstiche. Es war einfach nicht mehr zu beschreiben. „Wie konnte so etwas sein?“ „Hatten wir nicht schon genug Probleme mit dem Auto überstehen müssen?“ Es war einfach zuviel für uns. Alles war doch in Ordnung gewesen. Doch nun waren wieder Wolken über uns gezogen. Der Mechaniker bestätigte meine Vermutung. Er hatte alles getestet und war zu dem Ergebnis gelangt, dass es sich vermutlich um den Zylinderkopf oder um die Zylinderkopfdichtung handelte. Der Kostenvoranschlag belief sich so oder so auf eintausendfünfhundert Dollar. Wir konnten nicht mehr. Anne brach in Tränen aus. Wir hatten das einfach nicht verdient. Ich schloss meine Augen und stellte mir bildlich vor, wie ich Malcom gezielt durch das Loch in unserer Windschutzscheibe presste. Wir hatten nämlich ihm und seiner „Drecksarbeit“ diesen Schaden zu verdanken. Das wussten wir jetzt. Aber es war zu spät. Wir konnten nichts dagegen unternehmen. Wir hatten ja nicht einmal eine Rechnung von Malcom in der Hand, da alles schwarz und sehr billig erledigt worden war. Es war hoffnungslos.
Ich versuchte den Preis irgendwie herunterzuhandeln. Ich bot meine Hilfe an um somit wenigstens die Arbeitsstunden zu verringern, aber Alles in Allem verringerte sich der Preis dadurch auf nur eintausendvierhundertfünfzig Dollar. Vermutlich hatte der Mechaniker mein mechanisches „Talent“ erkannt und meine Hilfskraft auf sage und schreibe fünfzig Dollar angesetzt. Ich fand, ich wäre mehr wert gewesen, aber wie sollte ich ihm das klarmachen?
Anne saß noch im Bus und weinte. Es brach mir das Herz sie so zu sehen. Vor einem Tag noch war sie so glücklich gewesen und auf einem Mal war alles dahin. Wir verließen die Werkstatt, denn das Geld für die Reparatur konnten wir im Augenblick beim besten Willen nicht aufbringen. Wir hatten jedoch noch ein Dichtungsmittel in den Kühler geschüttet und hofften innerlich auf ein Wunder. Die Chance, dass so ein Mittel helfen könnte, ist wirklich nicht gering, unser Gefühl sagte uns jedoch etwas anderes.
Wir riefen als nächstes den Mechaniker in Shepparton an. Er konnte uns bestimmt irgendwie weiterhelfen. Immerhin hatte Anne ihn aus voller Dankbarkeit ausgiebig gedrückt, worüber er sich natürlich sehr gefreut hatte. Er sah aber nicht so gut aus und war auch schon etwas älter. Deshalb hatte ich mir da keine Sorgen gemacht. Aber das ist wieder ein anderes Thema. Über unser himmlisches Wunder, unserem Mobiltelefon, vermittelte ich ihm alle Symptome und erzählte ihm, was der Mechaniker uns für die Reparatur berechnen würde. Auch er bestätigte die Vermutung des Zylinderkopfes und wir merkten deutlich, wie Leid es ihm tat, dass uns unser Auto abermals im Stich ließ. Er könnte uns das Auto für ungefähr neunhundert Dollar reparieren, sagte er mir. Was für ein Unterschied. Aber es gab für uns keine Möglichkeit dieses Angebot anzunehmen. Zum einen würden wir diese tausend Kilometer, die wir seit Shepparton bereits zurückgelegt hatten, mit dem Motor nicht überstehen, so meinte er. Zum anderen würde es mit dem Spritgeld auf genau das Gleiche herauskommen, wie wir es berechneten. Dazu kam, dass wir auch nicht unbedingt diese gewaltige Strecke noch einmal zurücklegen wollten. Aber was sollten wir tun? Es schien aussichtslos.
Wir befanden uns bereits in Südaustralien, in der Nähe von Adelaide. Adelaide ist die größte Stadt Südaustraliens und wäre somit wohl für uns eine gute Gelegenheit das Auto günstiger zu reparieren. So vermutete es jedenfalls Jopie, der Mechaniker aus Shepparton. Wir waren allerdings nicht besonders davon überzeugt, dass sich der Preis dort dramatisch ändern würde. Jopie konnte somit erst einmal nichts mehr für uns tun. Es tat ihm so leid und er bat uns ihn auf jeden Fall auf dem Laufenden zu halten. Wir saßen im Hinterabteil unseres Vans und besprachen unsere Situation und denkbare Lösungen. Viele Möglichkeiten hatten wir nicht. Unser Budget war so berechnet, dass wir den langen Weg durch Südaustralien und einen Teil Westaustraliens bewältigen hätten können. Dann müssten wir uns in der Nähe von Perth, der größten Stadt Westaustraliens Arbeit suchen, um unsere Finanzen für die Weiterfahrt wieder aufzufrischen.
So unser eigentlicher Plan. Wir hatten eine solche Werkstattrechnung einfach nicht mit eingeplant. Wieso auch? Es war ja alles heil. Sogar unser Kassettenradio lief wieder. Also was sollte noch passieren? Waren wir zu leichtsinnig gewesen? Vielleicht. Aber das ist unser Leben, ein Leben am Rande des Abgrundes. Und diesem waren wir zu jenem Zeitpunkt sehr nahe.
Das Auto konnten wir aus Geldmangel nicht reparieren lassen. Diese eintausendfünfhundert Dollar wären alles gewesen, was wir besaßen. Wir hätten uns danach nicht einmal mehr Essen kaufen können, geschweige denn Benzin oder, oder… Eiscreme. Demzufolge mussten wir arbeiten, um die Kosten aufzubringen. Klingt logisch, das Problem aber war, dass hier in Südaustralien keine Arbeit mehr war. Das wussten wir genau. In Westaustralien dagegen, begann im Augenblick gerade die Apfelernte. Eine Arbeit, wo ständig Leute gesucht werden. Somit war unsere Chance auf einen Verdienst dort drüben im Westen eben sehr hoch. Es lag jedoch eine Strecke von insgesamt dreitausend Kilometern dazwischen. Ein Weg durch das Nichts. Also was sollten wir bloß tun? Sollten wir doch zurück nach Shepparton? Nein, keine gute Idee. Dort war keine Arbeit mehr für uns, jedenfalls nicht für die nächsten vier bis fünf Wochen. Sollten wir daher vielleicht nach Adelaide fahren, um uns einen Kellnerjob zu suchen?
Kellnerjobs waren immer eine gute Alternative zur Farmarbeit. Viele Backpacker nehmen diese wahr und verdienen somit ihr Reisegeld. Aber gleichzeitig einen solchen Job zu finden ist fast ausgeschlossen. Was nützt es uns denn, wenn nur einer von uns beiden arbeiten könnte? Dazu kommt natürlich, dass ich nicht besonders scharf auf diese Art von Arbeit bin. Bei meinem letzten Versuch in diesem Gewerbe war ich als Küchenhilfe angestellt. Es war vor vier Jahren in Cairns. An meinem ersten Probeabend verringerte ich die Einnahmen von diesem italienischen Nobelrestaurant dramatisch. Ich war gerade für das Tellerwaschen mit diesem Hochdruckgeschirrspüler verantwortlich, konnte aber kein Pulver dafür finden. Deshalb nahm ich Spülmittel aus der Flasche. Und das nicht zu knapp, da ich mir an diesem Probetag mit besonders glänzendem Geschirr den Job sichern wollte.
Heute weiß ich, dass das nicht so gut war. Der Schaum kam in einer solch gewaltigen Masse aus der Maschine, das ich in kürzester Zeit nicht nur die komplette Küche überflutete, sondern auch das Restaurant. Der Schaum kroch in alle Ecken, auch unter die Tische. Die Gäste waren gezwungen ihre Füße anzuheben, damit sie keine nassen Schuhe bekamen. Es war wie im Film. Als der dicke italienische Boss zurück kam und ihm eine riesen Welle Schaum entgegenschwappte, war alles klar. Ich hatte genug geprobt und durfte nach hause. Ich bekam noch sechzig Dollar in die Hand gedrückt und ging mit einem Schweigen davon. Seit diesem Vorfall bin ich zur Überzeugung gelangt, mich von diesen Jobs fernzuhalten. Aber wie schon gesagt, es wäre vermutlich sowieso nicht möglich gewesen, schnell und gemeinsam, eine solche Arbeit zu finden. Es gab daher keine andere Wahl, als den Weg durch das Nichts in Angriff zu nehmen. Das Auto fuhr ja noch. Zwar mit einem riesen Wasser- und Ölverbrauch, und vielleicht nur siebzig Kilometer pro Stunde, aber es fuhr.
Was diese Strecke jedoch für uns bedeuten würde, konnten wir in diesem Moment kaum einschätzen. Wir tuckerten noch zu einer zweiten Werkstatt, um einfach sicher zu gehen, keinen Fehler zu begehen. Auch dieser Mechaniker stellte die gleiche Prognose und der Kostenvoranschlag belief sich ebenso auf eintausendfünfhundert Dollar. Somit konnten wir zumindest wissen, nicht abgezockt zu werden. Im Nachhinein beruhigte es uns aber wenig. Also machten wir uns auf Richtung Westen. Eine Fahrt voller Angst stand uns bevor. Das wussten wir. Eine Reise durch das Nichts, durch ein riesen Gebiet, in welchem man nicht einmal einen Baum entdecken kann. Eine Fahrt durch das „Nullarbor“.
Es war heiß an diesem Vormittag. Etwas Wind wehte, die Sonne glühte, die Grillen zirpten und es war weit und breit kein Auto in Sicht. Wir fühlten uns allein. Da waren nur wir und die Strasse, welche sich circa zweitausend Kilometer durch das Nullarbor zog. Die Nacht zuvor verbrachten wir an einer Raststelle kurz hinter Ceduna. Ceduna ist ein alter Walfängerort und ist mit seinen zweitausendsechshundert Einwohnern die letzte größere Stadt vor dem Nullarbor. Norseman ist die nächste. Und zwischen ihr und Ceduna, befinden sich lediglich ein paar Tankstellen. Weiter nichts.
Wir standen am linken Straßenrand und besprachen erneut alle uns verbliebenen Möglichkeiten. Aber egal wie lange wir auch unsere Situation diskutierten, es gab keine andere Lösung für uns: „Wir mussten diese enorme Strecke bewältigen.“. Also machten wir uns auf, auf Richtung Westen.Die Angst würde nun unser ständiger Begleiter sein, dass wussten wir genau. Dennoch wollten wir uns von ihr nicht lähmen lassen und begannen uns positive Sachen einzureden. „Wir werden es schon schaffen. Wenn wir die Temperatur im Auge behalten und somit den Motor nicht überhitzen, wird es kein weiteres Problem für uns geben. Wir kippen halt alle hundert Kilometer Wasser und Öl nach und Schwupps die Wupps sind wir im Westen. Und da ist dann alles besser. Da gibt es Arbeit und diese ist sogar noch besser bezahlt.“ Das hörte sich gut und bekannt an. Wir waren voller Hoffnung. „Ja, wir schaffen das.“ „Whoooo!“ „Das wäre doch gelacht. Wir haben schon viel Schlimmeres überstanden.“
So tuckerten wir dahin. Mit siebzig Kilometern pro Stunde, entlang an, an… ? „Ja, an was eigentlich?“ Da waren im Grunde nur Sträucher, sonst nichts. Nicht einmal ein Baum ragte aus dem Gestrüpp hervor. Keine Farmen oder gar Weideflächen, die sonst nur allzu häufig zu sehen sind, keine Stromleitung, die parallel zur Strasse läuft oder gar ein Windrad, welches irgendeinem Brunnen diente, bloß ein Verkehrsschild deutete ab und zu auf Zivilisation hin. Anne schlief bereits nach dem dritten Kilometer. Ihr Kopfwippen zeigte dabei wieder deutlich, dass ihr die Schläfrigkeit unangenehm war. „Kopf langsam runter und schnell wieder hoch, Kopf langsam runter und wieder hoch, Kopf langsam runter und…, naja, und so weiter.“ Es sah aus, als hätte sie jedes Mal, sobald ihr Kopf unten anlangte, eine gute Idee, welche sie mir dann augenblicklich mitteilen wollte, aber dann doch noch einmal überlegen müsste. Im Grunde war es ihr aber nicht zu verdenken, hier einzuschlafen, denn die Eintönigkeit Australiens hatte im Nullarbor vermutlich den Höhepunkt erreicht. Alles sah dort gleich aus. Und das auf einer Fläche von über zwei Dritteln Deutschlands. Es war beängstigend zu wissen, welche Entfernung noch vor uns lag. Um es einmal mit Europa zu vergleichen, befanden wir uns am Anfang einer Strecke von, ungefähr Griechenland bis nach Spanien. Und diese mit kaputtem Zylinderkopf. Meine Augen wanderten somit ständig vom Tacho zur Temperaturanzeige. Bloß nicht zu schnell fahren und ja nicht den Motor überhitzen. Dass wir kein Thermostat mehr im Auto haben, machte die Kontrolle etwas schwierig, aber es war ok. Wir stoppten alle einhundert bis einhundertfünfzig Kilometer, ließen den Motor abkühlen und füllten folglich das verbrauchte Kühlwasser und das Öl wieder auf.
So schleppten wir uns dahin. Kilometer für Kilometer, und Stück für Stück auf dem einzigen Weg der durch dieses Niemandsland führt. Diese Straße stellt mit Abstand den wohl aufregendsten “Road Trip“ dar, welchen man sich hier in Australien vorstellen kann. Bei unserem ersten Australienbesuch kamen wir aus der anderen Richtung. Schon damals löste dieser Abschnitt Australiens eine Heidenangst bei uns aus. Aber unser VW Bus war zu jener Zeit in Ordnung und wir bewältigten diesen Teil unserer Kontinentumrundung ohne erwähnenswerte Vorkommnisse. Diesesmal war aber alles anders.
Die Angst stand uns in die Gesichter geschrieben und wir wussten innerlich genau, dass diese Strecke unser finanzielles Aus sein könnte. Blieben wir im Nullarbor liegen, würde unser Australienaufenthalt ein vorzeitiges Ende finden. Die Abschleppkosten wären für uns unbezahlbar. Wir versuchten die ganze Zeit nicht darüber nachzudenken, was passieren könnte. Ständig versuchten wir uns gegenseitig Mut zu machen. Wir erzählten uns Geschichten von anderen Backpackern, die es, wie es uns erzählt wurde, viel schlimmer getroffen hatte. Viele wurden durch ihre kaputten Autos gezwungen, ihre Reise vorzeitig abzubrechen. „Aber sollte uns das auch passieren? Sollte es wirklich eintreffen, dass wir die Mitte der Westküste, unser vorläufiges Ziel, nicht erreichen können? Wir hatten keine Ahnung, welchen Verlauf diese Geschichte nehmen würde. Innerlich aber gaben wir die Hoffnung nicht auf.
Wir versuchten die Autofahrt auf morgens und abends zu verlegen, um den heißen Mittagstemperaturen auszuweichen und somit den Motor nicht zu überhitzten.Zu unserem Glück jedoch sanken die Temperaturen in den letzten Tagen deutlich, was unserem Trip nur zu Gute kam. Dadurch schafften wir es tatsächlich an einigen Tagen, trotz der vielen Pausen, vierhundert Kilometer abzureisen. Dieses war natürlich ein enormes Stück in unserer Verfassung, aber alles verlief soweit ohne Vorkommnisse. Langsam aber sicher kamen wir Western Australien näher. An den wenigen Tankstellen, an denen wir grundsätzlich neben dem Benzin auch unsere Wasservorräte auffüllten, legten wir stets eine etwas längere Pause ein. Wahrscheinlich fühlten wir uns dort einfach sicherer, denn der Anblick anderer Reisender ließ zumindest für einen kurzen Augenblick das Gefühl der Einsamkeit in uns verschwinden. Es war einfach gut zu wissen, dass wir nicht die Einzigen auf dem „Eyre Highway“, so der Name dieser Strecke, waren. Wirklich hilfreich war dieser Gedanke jedoch nicht, denn trotz des gelegentlichen Treibens an den wenigen Zapfsäulen und einiger Futter suchender Dingos, sahen diese Tankstellen aus, wie kleine „Geisterstädte“. Umgeben von Sträuchern, staubiger Erde und einem endlosen Himmel stellten sie dennoch den einzigen Kontakt zur Zivilisation für uns dar.
Während wir also den Motor abermals abkühlen ließen, nutzten wir die Zeit, um Essen zu zubereiten und um uns zu duschen. Jedes „Roadhouse“, so nennt man hier die Tankstellen, bietet Duschen für nur zwei/drei Dollar an, was uns natürlich immer sehr gelegen kam. Auch ist es gut gelegentlich eine vernünftige Toilette benutzen zu können und nicht jedes Mal mit unserem kleinen „Kackspaten“ in die Büsche ziehen zu müssen. Jedoch nicht immer. Es kam nämlich schon so einige Male vor, dass wir den „Hygieneort“ rückwärts wieder verlassen, und den australischen Busch vorgezogen haben. Ich weiß bis heute nicht, wie „Scheisse“ auf die Klobrille, an die Seitenwände oder gar an die Decke gelangen kann. Ich meine: „Sitzt man nicht auf der Toilettenbrille um seine Notdurft zu verrichten? Wie also kommt die „Kacke“ auf die Brille? Steht da ein Jemand vor dem Becken und ärgert sich dann weil er die Öffnung verfehlt hat?“
Es heißt ja, dass dieser Fehlversuch einigen Menschen aus Asien zu verdanken ist, denn diese erleichtern sich dort zu hause bekanntlich auf unterschiedliche Weise. Bei unserer Thailandreise haben wir es damals selber kennengelernt. An den meisten Orten gab es keine Toilettenschüssel, sondern anstelle dieser, nur ein langes, flaches Becken im Boden. Man betritt folglich die Kabine mit dem Gesicht zur Wand, kniet sich hin, wobei man sich an einer Halterung vor sich festhalten kann und verrichtet sein Geschäft. Danach spült man. Entweder durch den Hebel an der Wand, der einen automatischen Spülgang verursacht oder mit der Schöpfkelle aus dem Wasserbehälter. Klingt alles etwas kompliziert und gewöhnungsbedürftig, aber es funktioniert. Ich gebe zu, dass wir anfangs auch etwas überlegen mussten, bevor wir in der Lage waren unser Geschäft sauber und gezielt zu platzieren. Aber es ging, denn eines war logisch: „Es sieht anders aus als bei uns, also funktioniert es auch anders als bei uns.
“Was bitte schön geht folglich den asiatischen Touristen hier durch den Kopf? „Es sieht anders aus als bei uns, aber ich versuch trotzdem mal die Öffnung rückwärts zu treffen?“ Wie läuft das ab? Hängt Bruce Lee da, mit dem Gesicht zur Wand und dem Hintern über dem Becken am Spülkasten, und drückt? „Och, wieder vorbei.“ Und benutzt er dann die Plastebrille als Katapult, um das Zeug an die Decke oder die Seitenwand zu schleudern? Es übersteigt einfach meine Vorstellungskraft.
Ok, solange er das Loch trifft, geht es mich nichts an, was dort in der Toilettenkabine vor sich geht. Aber pinkelt man nicht auch, wenn man sein großes Geschäft erledigt? Also wo läuft das hin? Es ist zum ausflippen wenn man es eilig hat, zum „Örtchen“ rennt, die Kabinentür voller Erleichterung aufreißt und dann solch ein Bild vorgesetzt bekommt. Einfach ekelhaft. Als ob unser “Road Trip“ durchs Niemandsland nicht schon schlimm genug wäre.
Bei dem zweiten „Roadhouse“ war aber alles bestens. Die Toilettenräume waren sauber und zitronenfrisch. Ich saß gerade auf einer der sechs Toiletten und freute mich darüber, mal wieder nicht von tausend Fliegen umgeben, mein Geschäft draußen verrichten zu müssen.
Das Schnaufen hörte ich schon entfernt. Da kam jemand, dem es hörbar schwer fiel einen Fuß vor den anderen zu setzen, was durch das Schleifgeräusch nur allzu verdeutlicht wurde. Das Keuchen wurde lauter. „Oh Mensch…“, dachte ich noch, „…da hat es aber einer eilig.“ Es hörte sich an, als habe er gerade einen dreitausend Meter Lauf hinter sich gebracht und sei jetzt außer Puste. Er war jetzt ganz dicht und es war eindeutig, er wollte „Einen Berg machen“. Ich dachte: „Ohhhhh, bitte nicht neben mir. Nicht neben mir. Nicht neben mir.“ Zu spät. Ich saß auf einer Außenkabine, welche dem Eingang als nächstes lag. Er nahm die nächste. Vermutlich wäre für ihn jeder weitere Meter zu viel gewesen. Fünf freie Toiletten und er nimmt genau die neben mir. Ich beeilte mich, er wiederum hatte Probleme durch die Tür zu kommen. Es hörte sich schlimm an, als ob er stecken blieb und sich dabei wehtat. Ich bekam Angst und beeilte mich noch mehr.
Vorher konnte ich noch Grillen zirpen und einige Vögel zwitschern hören. Damit war jetzt Schluss. Die Geräusche die nun folgten waren nicht menschlich. Es war ein Mix aus einer Schlacht aus dem Mittelalter und der Geburt eines Alien. Ich hatte nicht gewusst, dass ein menschlicher Körper solche Laute verursachen kann. Und diese dauerten an.
Vielleicht hatte er nicht bemerkt, dass noch jemand in der Nachbarkabine verweilt und ließ deshalb seiner Natur freien Lauf. Ich musste auf mich aufmerksam machen. Ich hustete, was ich nicht einmal vortäuschen musste. Denn mittlerweile kam auch der Geruch zu mir herüber. Aber keine Veränderung. Die Alienschlacht ging weiter. Er wusste also, dass er nicht alleine war, ließ sich aber auch nicht stören. Ich sagte laut: „Oh my God!“. Aber Nichts. Vielleicht hatte er es auch nicht verstanden, da ich mir mit der rechten Hand bereits die Nase zuhielt und meine Stimme dadurch einen nasalen Beiklang bekam. Aber es war auch egal. Ich hielt das Gemetzel nicht mehr aus. Ich brach ab, „reinigte“ mich und verließ im Laufschritt den Raum. Ich lief zum Auto, füllte das Wasser und Öl auf und wir fuhren weiter. Anne wollte eigentlich noch etwas essen, bevor wir aufbrachen, aber ich bat sie noch etwas damit zu warten. Mir war im Augenblick nicht nach essen zumute.
Der Highway führte uns nun entlang an der längsten Klippenküste der Welt. Es war atemberaubend. Fast einhundert Meter hohe Klippen bilden eine sichtbare Grenze zwischen Land und dem Indischen Ozean. Und das auf einer Länge von hunderten Kilometern. An jeder möglichen Stelle stoppten wir, um den Ausblick zu genießen. Es ist manchmal kurios auf unseren Reisen. Wir stehen dem „Aus“ so nahe und dennoch kann der Anblick einer solchen Landschaft ein derartiges Gefühl von Freiheit in uns auslösen, dass sämtliche Probleme nicht mehr existieren. Aber leider nur für einen Augenblick. Der Wasserverbrauch von unserem Van „Sammy“ stieg in den letzten Tagen nämlich deutlich an, was uns zusätzliche Angst bereitete. Die Temperaturen waren aber weiterhin gesunken, was eine Überhitzung des Motors wiederum verringerte. Viele Tage würden wir auf diese Weise jedoch nicht mehr überstehen. Das war sicher.
Wir hatten aber mittlerweile schon fast das Ende der Strecke erreicht. Der gesamte Ablauf hatte in den letzten Tagen schon Routine angenommen. Hundert Kilometer fahren, Pause einlegen, den Motor abkühlen lassen, dann Öl und Wasser aufkippen und weiter ging es. In den letzten zwei Tagen waren endlich wieder Bäume zu sehen. Wir waren bereits in Western Australien und nun nicht mehr weit entfernt von unserem vorläufigen Ziel.
Norseman erreichten wir nach fünf Tagen. Wir machten jedoch keine Anstalten dort lange zu verweilen. Arbeit gab es nicht und auch die Werkstattpreise waren dort mit Gewissheit noch utopisch. Also fuhren wir weiter nach Esperance. Esperance ist ein alter Goldgräberort am Ozean und hat sich in den letzten Jahren, mit seinen circa neuntausend Seelen, zu einem kleinen, stattlichen Touristenort entwickelt. Die sagenhafte Strandlandschaft im Umkreis von Esperance ist gewiss der Auslöser des Touristenbooms. Wir erreichten Esperance an einem Samstagmorgen. Keine Werkstatt war geöffnet. Auch war es schwer an einem Sonnabend Arbeit zu finden, da sämtliche Agenturen, sogar das Informationszentrum, geschlossen waren. Wir wussten anfangs nicht, was wir tun sollten.
Sollten wir die nächsten fünfhundert Kilometer in Angriff nehmen, um Albany, den nächstliegenden, größten Ort, zu erreichen? Oder sollten wir hier ein paar Nachte verbringen, um am Montag unser Glück zu versuchen? Wir entschieden uns für die zweite Möglichkeit. So verbrachten wir die nächsten zwei Nächte in einem Nationalpark, ganz in der Nähe von Esperance.Wir bereuten diese Entscheidung keines Falles.
Neugierig kamen sie an unseren Van heran. Eine ungewöhnliche, aber dennoch sehr angenehme Begrüßung. Die Dämmerung war bereits eingetreten und die Umgebung verlor demzufolge ihre Farbenprächtigkeit. Man konnte nur die Wellen hören, wie sie kraftvoll an den Felsklippen brachen. Sonst nichts. Es duftete nach Salzwasser.
Ich hatte den Motor ausgestellt, um die Anführerin unseres Empfangskomitees nicht zu verschrecken. Es war wahrscheinlich die Mutter, die ihre zwei Sprösslinge im Schlepptau an unser Auto heranführte und im nächsten Augenblick ihre Nase empor streckte, um nach etwas Essbarem zu schnüffeln.
Normaler Weise sind sie sehr scheu und halten sich grundsätzlich nicht in Menschennähe auf. In vielen Nationalparks jedoch haben sich die Kängurus bereits an die Zweibeiner gewohnt. Was für einzigartige Geschöpfe. So putzig und niedlich, so drollig und liebenswert, so bezaubernd und ulkig, aber dumm wie ein Hausschuh. Im Ernst, ich glaube das sind die dümmsten Tiere, welchen wir je begegnet sind. Selbst mein einstiges Karnickel, ich hielt es vor vielen Jahren im Schuppen meiner Oma, hatte mehr Grips als diese australischen Beuteltiere. Und mein Karnickel saß eigentlich immer nur da.
Man hört hier viele Geschichten von nächtlichen Zusammenstössen mit Kängurus. Die unzähligen, toten Tiere am Straßenrand bestätigen diese und machen deutlich, wie gefährlich Nachtfahrten hier sein können. Ich sage: „Aber das ist nicht die Schuld der Tiere.“ Uns wurden dann aber auch von Ereignissen berichtet, bei welchen sie in die Seite von fahrenden Autos sprangen. „Wie bitte, in die Seite?“ Genau. Man muss sich das so vorstellen: da befinden sich vielleicht fünf sechs Tiere Gras fressend am Straßenrand. Das Auto kommt angefahren. Eines der Kängurus schreckt auf und schnellt los. Und das erfahrungsgemäß eben auf, oder über die Straße. Die Kameraden folgen sofort. Alle springen sie aufgescheucht hintereinander weg zur anderen Seite. Bis auf das letzte Tier. Das springt in die Seite des Autos. Ich sage dazu: „Schon etwas mehr die Schuld der Tiere.“
Nun stelle man sich einmal vor: da befanden sich vielleicht fünf sechs Tiere Gras fressend am Straßenrand. Das Auto kam angefahren. Das Auto bremste ab, da die Leute die Tiere beobachten wollten. Eines der Kängurus schreckte auf und schnellte los. Die Kameraden folgten sofort. Alle sprangen sie aufgescheucht hintereinander weg zur anderen Seite. Bis auf das letzte Tier. Das sprang in die Seite des „parkenden“ Autos. Also dazu fehlen mir die Worte und ich muss einfach sagen: „Meinem Karnickel wäre das nicht passiert.“
Wir suchten uns, nach dieser freundlichen Begrüßung, einen Schlafplatz. Es war bereits dunkel und als wir etwas später in unsrem Bett lagen, gingen wir gedanklich noch einmal den gesamten Trip durch. In mancher Hinsicht waren wir sehr erleichtert diese enorme Strecke hinter uns gelassen zu haben. Unser Van „Sammy“ hatte durchgehalten. Kilometer für Kilometer brachte er uns sicher durch das Niemandsland. Fast eine Woche hatte es gedauert. Eine Woche voller Angst und Ungewissheit. Aber nun waren in Western Australien. Wiederum aber wussten wir genau, dass ein weiteres Problem vor uns lag. Das Auto musste repariert werden. Dieses konnten wir allerdings ohne Arbeit nicht finanzieren. Das bedeutete, wir waren gezwungen eine gute Werkstatt ausfindig zu machen und gleichzeitig Arbeit zu finden. Uns war nicht wohl bei diesen Gedanken. Denn mit kaputtem Auto sämtliche Farmen abzuklappern um nach Arbeit zu suchen, klang nicht besonders viel versprechend. Aber wir mussten da durch.
Am nächsten Morgen waren unsere Sorgen plötzlich verschwunden. Zu mindestens wieder für einen Moment. Ich erwähnte bereits: „…atemberaubende Landschaften lassen wenigstens für eine kurze Weile unsere Probleme erlöschen.
“Die Strände waren ohne Zweifel mit die schönsten, welche wir in Australien je gesehen haben. Weißer Sand, türkises Wasser und das umgeben von ergreifenden Gesteinsformationen. Wir standen einfach nur da und genossen diesen Anblick. Ich hob meine Arme und streckte sie voller Freude über diesen Anblick in die Höhe. Bei unserem ersten Australienbesuch waren wir schon einmal hier. Damals regnete es aus Eimern, wodurch wir wahrscheinlich diese fantastische Landschaft nicht wahrnehmen konnten. Dieses Mal jedoch prägte sich der Anblick dauerhaft in unser Gedächtnis ein. Zwei Tage später befanden wir uns bereits auf dem Weg nach Albany. Wir waren nicht in Esperance geblieben. Wir haben uns auch nicht nach einer Werkstatt, oder gar nach Arbeit umgesehen. Uns erschien dieser Ort einfach zu klein und zu teuer. Die wenigen Zeltplätze im Ort, waren sowohl ausgebucht als auch dermaßen überteuert, dass uns die Entscheidung, weiter nach Albany zu fahren, nicht schwer fiel. Wir waren uns nicht so sicher, ob es die richtige Entscheidung gewesen ist. Immerhin war unser Auto kaputt und es lagen weitere fünfhundert Kilometer vor uns. Dennoch hatten wir ein gutes Gefühl bei diesem Unterfangen. So machten wir uns auf. Das Kühlwasser war aufgefüllt, unsere Essensvorräte etwas aufgestockt und zu guter Letzt zeigte sogar unser Telefon wieder ein Signal. Was für ein beruhigendes Gefühl. Den letzten Signalbalken hatten wir vor über einer Woche, zu Beginn unserer Abenteuerfahrt durch das Nullarbor.
Aber nun waren wir wenigstens wieder in der Lage, im Falle eines Falles, Hilfe anzufordern. Der Ablauf der Fahrt war immer noch der Gleiche. Einhundert Kilometer fahren, Pause einlegen um den Motor abzukühlen, dann Wasser und Öl auffüllen und weiter ging es. So erreichten wir Albany nach einem Tag.
Als erstes statteten wir dem Informationszentrum einen Besuch ab. Eine überaus hilfsbereite Frau konnte wahrscheinlich unsere Notsituation spüren und begann sogleich Farm- und Werkstattadressen, wie auswendig gelernt, aufzuzählen. Bestimmt waren vor uns schon andere Backpacker, mit ähnlichen Problemen, hier aufgekreuzt. Wir waren jedoch sehr erleichtert über diese Hilfe, denn es klang alles sehr viel versprechend. Werkstätten gab es hier wie Sand am Meer, sowie Farmen und Packhäuser. Sämtliche Gemüsesorten werden dort in der Umgebung angebaut, was eigentlich immer genügend Arbeit versprechen kann, wie sie erwähnte. Wie sich jedoch herausstellte, ist die Erntesaison vorüber und momentan sieht es eher schlecht aus mit Arbeitsplätzen. Auch befanden sich keine Apfelplantagen im Umkreis. Wir wollten gerade in Panik verfallen, als sie wie aus der Pistole schoss: „…aber die Erdbeerenernte hat begonnen.“ Annes Augen leuchteten auf und sie grinste: „Erdbeeren eh? Ich mag Erdbeeren.“ Ich konnte deutlich in Annes Mimik erkennen, dass sie bereits gedanklich das gesamte Erdbeerenfeld leer gegessen hatte. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck und bekam etwas Angst. Da war wieder diese Gier in ihren Augen. Wahrscheinlich würden wir, durch ihren ungebremsten Erdbeerhunger, keinen Cent verdienen, dachte ich. So nahm ich Anne bei ihren Schultern und führte sie zum Auto zurück. „Erdbeeren sind meine Lieblingsbeeren.“ „Ja, ich weiß Annemaus.“
Die erste gewählte Telefonnummer war schon ein Volltreffer. Anne hatte sich daran gemacht, telefonisch nach Arbeit zu fragen. Eigentlich fragte sie nicht, sondern zwang den Farmer mehr oder weniger uns den Job zu geben. Die Nummern hatten wir uns zuvor aus dem Telefonbuch besorgt, und wie schon erwähnt, war die erste auch gleich ein Arbeitsversprechen.
Früh am Morgen fuhren wir auf das Grundstück. Es war ein gutes Gefühl. Nun würde es wieder nach oben gehen. Geld wird gespart und somit das Auto repariert. Hoffnungsvoll saßen wir in unserem Van. Wir waren etwas zu früh eingetroffen und mussten deshalb auf die restlichen Arbeiter warten. Wir parkten genau vor dem Packhaus. Dahinter befanden sich vermutlich die Erdbeerfelder. Das gesamte und ansonsten ziemlich große Gelände war vollständig von Wald umgeben. Vogelgesang war das einzige Geräusch, welches wir wahrnahmen. Alles wirkte sehr friedlich. Plötzlich prasselten die ersten Regentropfen auf unsere Frontscheibe. Der Riss in ihr hatte sich inzwischen nicht nur von oben nach unten ausgedehnt, sondern auch von der Fahrer- bis zur Beifahrerseite. Die Scheibe war somit in vier Felder aufgeteilt. Zwei weitere, diagonale Risse bahnten sich mittlerweile ihren Weg. Es sah aus, als würde ein Sternenmuster geformt.
Der Regen wurde nun heftiger und der Riss war derweil, vor lauter Tropfen, nicht mehr zu erkennen. Ein Bus fuhr vor. Es war der Arbeitertransport mit ungefähr zehn/fünfzehn Seelen an Bord. Ausdruckslos schauten einige von ihnen in unsere Richtung. Diese Leere in ihren Augen war eigenartig. Anne und ich sahen uns fragend an. Sie stiegen nacheinander aus. Nichts sagend. Zum größten Teil waren es junge Leute. Darunter einige Asiaten und vermutlich einige Europäer. Vielleicht Backpacker? Wir konnten es nicht sagen. Der Rest der Truppe bestand möglicherweise aus Australiern.
Langsam und still gingen sie in das Packhaus. Sie wirkten müde und verlassen. Wir folgten ihnen. Es war dunkel in dieser Halle, aber niemanden schien das zu kümmern. Links konnten wir einen kleinen Raum erkennen. Es war wahrscheinlich so eine Art von Büro. In der Mitte der Halle waren viele Tische aneinander gereiht. Sie dienten unverkennbar als Packtische. Hinter diesen stapelten sich unzählige tablettförmige Körbe zum Pflücken der Erdbeeren. Einige der Arbeiter zogen sich dreckige, zum Teil zerrissene Regensachen über. Das war nicht gut. Wir hatten gehofft, die Erdbeerfelder wären überdacht. Aber der Anblick dieser Regensachen deutete nun aufs Gegenteil. Wir standen neben dem Eingang und beobachteten stumm dieses lautlose Treiben. Ein Husten übertönte die Stille. Danach wieder Schweigen.
Diese traurigen Gesichter versprachen nichts Gutes. Wir grüssten einige von ihnen mit einem kurzen Kopfnicken. Nichts, keine Antwort. Wir versuchten unser Begrüßungskopfnicken mit einem Lächeln zu kombinieren, aber ohne Erfolg. „Oh mein Gott, wo sind wir denn hier gelandet?“, fragte mich Anne leise. „Ich hab keine Ahnung.“, gab ich flüsternd zurück. Aber innerlich wussten wir es beide: Wir befanden uns im Dorf der Verdammten.
Ahnungslose Asiaten, die durch ihre wenigen Sprachkenntnisse zu dieser Arbeit gezwungen waren, junge europäische Backpacker, die wahrscheinlich vor wenigen Wochen noch ihr Reiseleben irrsinnig genossen hatten oder aussichtslose Australier, hatten nun an diesem Ort ihre Seelen verloren. Sie waren zu dieser Arbeit verdammt. Es gab kein Ausweg mehr für sie. Ein kleiner, dicker Typ kam nun aus dem Büroersatz geschlichen. Er bahnte sich seinen Weg elegant zwischen den umherirrenden Erdbeerpflückern und kam auf uns zu. Er war ein Kopf kleiner als Anne, hatte lange Haare und sein Gesicht war weiß und mit einigen Ringen in der rechten Augenbraue, in den Ohren und in der Nase durchstochen. „Cool.“, dachte ich. Endlich mal ein Boss nach meinem Geschmack. Aber der Typ war dermaßen stoned, dass er nicht einmal ein „Hallo“, geschweige denn ein „Good morning.“, herausbrachte. Wir standen nur da. Er guckte uns an und wir ihn. Eine Unterhaltung mit ihm war in seinem Zustand wirklich nicht möglich. Aber wir versuchten es trotzdem: „We called yesterday.“ „Yep.“ „We wanna start working today.“ „Yep.“ „Arbeiten wir draußen?“ „Jap.“ „Habt ihr hier Regensachen für uns?“ „Nö.“ Oh man, dass könnte eine Weile dauern. Er sah uns durch seine dunkelroten Schlitzaugen an und grinste vor sich hin. Alles in Allem der einzige von den Arbeitern der grinste. Ich musste nun auch schon grinsen, denn Cheech machte den Eindruck, als ob er sogleich mit dem Kopf auf einen der Packtische ballern würde. Ob der Typ sich jeden morgen, vor dem großen Pflückeinsatz, so zuknallt? Ohne Zweifel. Er hatte somit wahrscheinlich einen Weg entdeckt, diese Art von Arbeit für sich erträglich zu machen. Es sah aber nicht danach aus, dass er sein Geheimnis mit seinen Angestellten teilte, denn diese irrten weiterhin ausdruckslos durch die Halle. Ohne es zwischen uns abzusprechen, hatten wir eine Entscheidung getroffen. Wir brauchten uns nicht einmal anzuschauen. Ich nahm Annes Hand und wir gingen langsam und rückwärts Richtung Ausgang. „Ok, wir fahren nur mal eben los, um uns Regensachen zu besorgen. Wir sind dann gleich wieder da.“, sagte ich noch, wobei ich meine rechte Hand etwas hob und eine beruhigende Geste täuschte. Er grinste unverändert vor sich hin. „Yep.“
Keine zehn Sekunden später saßen wir im Auto und verließen bereits das Erdbeerdorf. Ohne Zweifel hatten wir die richtige Entscheidung getroffen. Es ist zwar ziemlich dumm, in unserer Lage, einen Job abzulehnen, aber wir wollten unsere Seelen behalten. Wir lachten bereits über den kleinen, dicken Kiffer, als wir nach Albany zurückkehrten. Mit der Erdbeerenernte hatten wir aufgegeben. Annes Erdbeerappetit war so oder so verblasst. Noch hatten wir etwas Geld um nach anderer Arbeit Ausschau zu halten. Es war uns zwar etwas unwohl, in unserer finanziellen Verfassung Arbeit abzulehnen, aber noch waren wir nicht gebrochen. Wir wollten uns erst einmal um unser zweites Problem kümmern. Vor der uns empfohlenen Werkstatt machten wir Halt. Da waren wir wieder: Am Rande des Abgrundes, vor den Toren der Hölle, am Eingang einer Autowerkstatt. Nichts kam uns in den letzten Monaten schlimmer vor, als ein Aufsuchen eines Mechanikers. Wahrscheinlich sitzen sie gerade alle an einem Fenster und beobachten uns Backpacker, mit bereits Dollarzeichen in den Augen. „Harharhar….fremde, junge, ahnungslose Reisende aus dem Ausland. Ein gefundenes Fressen. Harharhar…!“ Uns war angst und bange. Wir wussten zwar, welcher Betrag auf uns zukommen würde, aber kostet die Reparatur hier in Western Australien auch Eintausendfünfhundert Dollar? Vielleicht wird es sogar teurer?
Meine Knie zitterten etwas als ich in die Werkhalle trat. Anne blieb am Auto. Der Boss der Firma kam sogleich auf mich zu. Er hatte einen kleinen Silberblick, machte aber ansonsten einen recht freundlichen und vor allem ehrlichen Eindruck. Das war gut. Ich erklärte ihm unser Problem. Er sagte mir dass er bereit wäre die Reparatur zu übernehmen. „Natürlich will er das. Er kann uns dabei doch so richtig über den Tisch ziehen.“, dachte ich noch. Nach der Frage zum Preis, kam keine Antwort. Er überlegte. Ich schwitzte. Er überlegte noch etwas, sagte dann aber selbstbewusst: „Siebenhundertfünfzig Dollar.“. Meine Knie drohten nun nachzugeben. Ich konnte es nicht fassen. Das war die Hälfte von dem, was uns vor dem Nullarbor gesagt wurde. Es war unglaublich. Ich ließ mir den Preis noch ungefähr viermal bestätigen, wobei sich sogar heraus stellte, dass es höchstens siebenhundertfünfzig Dollar werden können. Das bedeutete, da gab es eine Chance, wir bräuchten vielleicht sogar noch weniger zu bezahlen. Ich machte einen Termin ab und eilte zu Anne.
Sie freute sich riesig über diesen Preis. Auch dieser Mechaniker hat bestimmt gedacht, wir haben einen zu laufen. Er knallt uns so einen heftigen Preis an den Kopf und wir fangen beinahe an zu tanzen. Aber uns war das egal. Zwei Tage später sollte unser Elend vorüber sein. Und diese zwei Tage verbrachten wir am Wasser. Die Schönheit der Strände war dort unten im Süden noch nicht verblasst. Auch die Umgebung von Albany ließ nichts zu wünschen übrig.
So saßen wir vor unserem Van, an dieser fantastischen, kleinen Bucht und beobachteten fast täglich Delphine. Ansonsten versuchte ich, so oft es ging, uns ein Abendessen zu fangen und Anne versuchte weiterhin einen Job für uns zu ergattern. Das Schöne dabei: „Wir waren beide erfolgreich!“.
Es gab Bier. Das war gut. Und auch kein billiges. Das war noch besser. Wir standen in der Werkstatthalle und beobachteten gerade vier Mechaniker, welche eifrig an unserem Van „Sammy“ herumschraubten. Einer hielt eine Lampe und zwei andere waren intensiv am Motor zu Gange, wobei sie ihren Blick keine Sekunde von diesem abschweifen ließen. Sie streckten bloß ihre Arme nach hinten, schrieen irgendwelche Werkzeugnamen und der vierte Kollege rannte aufgebracht von Fahrer- zur Beifahrerseite, um ihnen dann die nötigen Teile in Hand zu legen. Es sah aus, wie in einem Operationssaal. „Zange…! „Schraubenschlüssel…!“ „SCHRAUBENSCHLÜSSEL…!“ Es war herrlich und gut mit anzusehen, wie so anstellig an unserem Auto gebastelt wurde.
Die Halle war ziemlich groß und gefüllt mit kaputten Autos, Unmengen an Werkzeug und verschiedensten Ersatzteilen. Zwei Hebebühnen nahmen den größten Anteil der Werkstatt ein. Auf einer Werkbank, an der hinteren Wand, lag, neben einigen rostigen Schrauben und einer zerbrochenen Radkappe, unsere alte Zylinderkopfdichtung. Ihr hatten wir die vermutlich aufregendste Autofahrt unseres Lebens zu verdanken. Vor ungefähr zwei Monaten hatten wir sie noch, auf dem staubigen Boden Malcoms Schrottplatzes, eingebaut. Sie hielt circa drei Wochen, bevor sie uns erneut eine Werkstatt aufsuchen ließ. Es war bereits dunkel. Die zwei Einfahrten der Halle waren inzwischen zugeschoben, denn die Werkstatt war eigentlich schon seit eineinhalb Stunden geschlossen.
Die Arbeiter mussten, zu unseren Gunsten, Überstunden einlegen. Das sollte aber am Preis nichts ändern. Der Boss hatte sich zu uns gesellt und drückte mir ein zweites Bier in die Hand. Er war etwas kleiner als ich und hatte schwarze, kurze Haare. Seine Finger waren schwarz und mit Öl beschmiert. Vermutlich von der Arbeit an unserem Van, dachte ich. Er war ein freundlicher Typ. Keine Lügen, die er uns erzählte. Keine falschen Versprechungen, die er uns machte. Wir hatten einfach nicht das Gefühl, auf unehrliche Art und Weise, Geld zu verlieren.
Bei all unseren Werkstattbesuchen, fühlten wir uns hier am wohlsten. Da standen wir. An der Seite von unserem Van, jeder ein Bier in der Hand, und vier Mechaniker werkelten professionell an unserem Auto herum. Am liebsten hätte ich noch Anweisungen gegeben, ließ es aber lieber bleiben. Fred, so der Name des Bosses, ließ sich gerade ausgiebig über Malcom aus, als er mir seine Bierflasche zum Anstoßen hinhielt. Er hatte mittlerweile sein drittes Bier am Hals und wurde dadurch immer verärgerter über unseren Autoverkäufer aus Brisbane. „What a fucking guy!“, sagte er laut. „He should’ve fucking known!“. Wir schauten ihn belustigt an, denn er sprach aus, was wir seit Langem dachten. “Ah, Fuck him!” „Fuck…, fucking…, fuck, fuck…!“ Es dauerte eine Weile an. Sein Silberblick war nun sehr deutlich zu erkennen. Er konnte uns beide anschauen, ohne seinen Kopf zu drehen. Praktisch.
Es war beim besten Willen nicht mehr von der Hand zu weisen, dass wir „fucking“ Malcom und seiner „fucking“ Drecksarbeit dieses ganze „fucking“ Schlamassel zu verdanken hatten. Das bestätigte uns Fred laut. Aber wir konnten dagegen nichts mehr unternehmen, freuten uns dennoch über seine Anteilnahme. Auf einem Mal startete unser Motor. Einer der vier Mechaniker saß hinter dem Lenkrad und schaute nun erfreut zu uns herüber. „It’s ready, mate!“ sagte er laut. Er machte einen glücklichen Eindruck. Nicht aber wegen unseres reparierten Autos, eher wegen der Bierkiste auf der Werkbank. Er hatte nämlich noch nicht einmal ausgesprochen, als er aus dem Auto sprang und sich bereits eine Flasche aus der Kiste nahm. Sofort eilten auch die anderen drei zur hinteren Werkbank, um sich ihren Anteil am Bier zu sichern. Wir stießen alle gemeinsam an, wobei wir uns bei ihnen erneut für die schnelle Arbeit bedankten. Eigentlich sollte das Auto mindestens zwei Tage in der Werkstatt bleiben. Sie hatten es aber an nur einem Tag erledigt. Ein großer Vorteil für uns. Somit konnten wir noch am gleichen Abend Albany verlassen. Es gab nichts mehr für uns zu tun. Außer der Erdbeerernte, und von dieser Art von Arbeit hatten wir bekanntlich schon genug, obwohl wir nicht eine einzige Beere gepflückt hatten, gab es hier im Umkreis keine weitere Beschäftigung. Aber das war überhaupt kein Problem. Denn wir hatten einen Job gefunden.
Circa dreihundert Kilometer, Richtung Perth, gab es eine große Farm, welche noch Apfelpflücker suchte. Alles war schon am Telefon besprochen. Sobald wir in Manjimup, so der Name der kleinen Stadt, eintreffen würden, könnten wir sofort mit der Arbeit beginnen. Es ging also wieder Berg auf. Das Auto war heil, wir hatten Arbeit bekommen und tranken bereits unser drittes Freibier. Wer hätte das gedacht? Wir hatten in den letzten Wochen soviel durchmachen müssen, aber nun war es überstanden. Wir konnten unsere Reise nun „sorgenfrei“ fortsetzten.
Nach dem Bier kamen wir zur Rechnung. Siebenhundert Dollar berechnete Fred. Das war alles. Zwar nicht gerade wenig für uns, aber immer noch besser als Eintausendfünfhundert. Wir gingen in sein Büro. Ein kleiner Raum, behangen mit vielen alten Bildern von seinen Angehörigen. Es war zu erkennen, dass diese Werkstatt schon seit zig Jahrzehnten im Familienbesitz war. Wir betrachteten jedes einzelne Bild aufmerksam und schweigsam, während Fred begann, unsere Rechnung aufzustellen. Da war auch ein Bild seines Großvaters an der Wand. Der Silberblick lag eindeutig in der Familie. Fred war nun fast fertig mit dem Beleg, hatte jedoch noch nicht mit Malcom abgeschlossen und brabbelte daher erneut vor sich hin: „Was für ein „fucking“ Typ! Dem müsste man seine „fucking“ Linzens abnehmen. Er hätte es „fucking“ besser wissen müssen!“. „Was haben die Leute hier nur andauernd mit diesem Wort „Fuck!“?“, dachten wir. Ich glaube das berühmte „F-Wort“ wird den Australiern schon von klein auf an beigebracht. Es gibt dafür keine deutsche Übersetzung, bedeutet aber wirklich nichts Gutes. Und man kann es in jedem Satz anwenden, ob als Verb, als Adjektiv oder als Substantiv: „Fuck You, fucking Fuck!“, der wohl bekannteste Satz im englischen Sprachraum. Aber genug dazu.
Nachdem wir unsere Schulden beglichen hatten, fuhren wir los nach Manjimup. Dieses Mal brauchten wir nicht mehr nach einhundert Kilometern stoppen, um Wasser und Öl nachzukippen. Unser Albtraum war vorüber. Wir konnten es nicht glauben. Keine Werkstätten mehr aufzusuchen, keine teuren Reparaturen zu bezahlen, dass war das Bild unserer Zukunft. Die neue Dichtung war eingebaut und selbst der Zylinderkopf war ersetzt worden. Unser Van würde uns ab sofort keine Probleme mehr bereiten. Kurz hinter Albany suchten wir uns bereits einen Schlafplatz. Wir waren nämlich von dem Bier etwas müde geworden und hielten es für angebracht nicht weiterzufahren. Am nächsten Morgen kamen wir dafür schneller voran, als erwartet. „Sammy“ surrte wie ein Kätzchen durch die Wälder im Süden Western Australiens. Es ist schon beeindruckend, wie unterschiedlich die Landschaft auf diesem Kontinent sein kann. Waren wir vor circa zwei Wochen noch durch ein Gebiet getuckert, in welchem man kaum einen Baum zu Gesicht bekam, schnellten wir nun durch riesige Wälder. Kein Sandstaub wehte, keine vertrockneten Gräser und Büsche, ja nicht einmal ein Sonnenstrahl drang durch das Dickicht. Es war angenehm zu fahren. Anne hat von dem leider nichts mitbekommen. Sie schlief wieder kopfnickend auf ihrem Beifahrersitz.
Plötzlich war unser Freude vorbei, circa fünfzig Kilometer vor Manjimup (gesprochen = Manschiemapp). Wieder einmal sahen wir uns mit offenen Mündern an, als wir deutlich spürten, dass mit unserem Auto etwas nicht stimmte. Wir verloren deutlich an Fahrt. Ich konnte das Gaspedal durchtreten, wie auch immer ich wollte, wir wurden langsamer. Symptome die uns nur allzu bekannt waren. „Aber wie konnte das sein? Der Zylinderkopf war doch neu!“ Die Verzweiflung war groß und wir waren anfangs nicht in der Lage zu sprechen. Das konnte alles nicht wahr sein. Wir waren am Ende.
„Aber was sollten wir jetzt tun?“ Fuhren wir die fast dreihundert Kilometer zurück nach Albany, würde es nicht nur eine Ewigkeit dauern bis wir ankämen, wir könnten es auch riskieren, den aufgetretenen Schaden zu verschlimmern. Das war klar. Wir entschieden uns weiter nach Manjimup zu tuckern und erneut vor die Tore einer Werkstatt zu rollen. Auf der restlichen Strecke tat ich nun etwas, was ich noch nie zuvor an einem unserer Autos selbst versucht hatte: Ich probierte höchstpersönlich den Schaden zu beheben. Es wäre natürlich zu schön gewesen, wenn das auch etwas gebracht hätte. Aber dem war leider nicht so. Ich konnte nichts entdecken. Es war Annes Idee, den Motor einfach einmal von Benzin auf Gas umzustellen. Das ist nämlich eine Besonderheit unseres „superduper“ Autos. Wir können Benzin oder Gas tanken, was hier in Australien einen großen Preisunterschied darstellt. Gesagt, getan. Ich schaltete auf Gas um, und was soll ich sagen, das Problem war verschwunden. Anne hatte uns gerettet. Dadurch konnten wir wenigstens sicherstellen, dass der Schaden nichts mit dem Zylinderkopf oder der Dichtung zu tun hatte. Als uns aber bewusst wurde, dass es eventuell etwas Teures bei der Benzinzufuhr sein könnte, wurde uns wieder einmal übel bei diesem Gedanken. Aber vorerst hätten wir das Geld ehe nicht. Deshalb fuhren wir sofort, nach der Ankunft in Manjimup, zur Farm, füllten alle besagten Papiere aus und konnten somit schon am nächsten Morgen mit der Apfelernte beginnen. Wir waren nicht zu spät gekommen. Die Ernte war zwar in vollem Gange, aber die Saison würde noch mindesten weitere sechs Wochen andauern. So versicherte es uns unser Boss. Das war jedenfalls mehr als wir wollten.
Die Apfelplantage war riesig und angelegt wie ein Netzwerk aus Sandstrassen und dicht bewachsenen Baumreihen. Die Bäume waren gefüllt mit Äpfeln, was unsere Augen leuchten ließ. Das bedeutete schnelles Arbeiten und somit hoffentlich einen guten Verdienst. So schritten wir wieder einmal, mit einer Leiter über der Schulter und einer Pflücktasche vor der Brust, zu unseren ersten, zugewiesenen Baumreihen.
Es funktionierte auf dieser Farm folgendermaßen: Wir pflückten zu zweit in einer Reihe. Jeder bekam eine Leiter, einen Pflückbeutel und in diesem Falle sogar einen Traktor, auf welchem sich drei Holzkisten befanden. Die Äpfel pflückt man somit als erstes in seinen Beutel und entleert diesen vorsichtig in dem Holzcontainer. Waren die drei Kisten voll, brachte der Vorarbeiter sofort den nächsten Traktor, auf welchem sich ebenfalls drei Kisten befanden, in die Reihe, und das ganze Spiel begann von vorne. Auch wurden die Äpfel regelmäßig auf Druckstellen geprüft. Achtundzwanzig Dollar, pro gefüllte Kiste, wurden uns als Gehalt berechnet. Füllten wir eine Kiste pro Stunde, verdienten wir folglich vierzehn Dollar pro Person. Zu wenig für uns. Aber wie schnell man seinen Behälter füllen kann hängt natürlich von verschiedenen Faktoren ab: Die Anzahl der Äpfel an den Bäumen, zum Beispiel, die Höhe der Bäume selbst, das Wetter und natürlich die eigene Verfassung sind nur Bruchteile von dem, was im Endeffekt die Bezahlung ausmacht.
Für uns war es jedenfalls nicht das erste Mal, dass wir zu dieser Arbeit „gezwungen“ waren. Unser erster Pflückversuch war in Neuseeland. Am Ende unseres Jahresaufenthalts war es die einzige Möglichkeit für uns gewesen, noch etwas Geld für die erste Australienreise zu verdienen. Damals begannen wir die Arbeit noch mit dem Glauben es sei einfach. Man bräuchte doch nur die Äpfel von den Bäumen zu pflücken und verdiente angemessenes Geld. Dem war nicht so. Nach dem ersten Tag waren wir völlig erledigt. Unsere Rückenschmerzen waren nicht zu ertragen und wir hatten gerade einmal sechs dieser Holzkisten zusammen füllen können. Das war gar nichts. Wir konnten es nicht fassen. Wir hatten in den acht Arbeitsstunden nicht einmal lange Pausen eingelegt. Wir waren quasi gelaufen. Dennoch war es uns nicht möglich gewesen anständiges Geld zu verdienen. Das der Typ in der Reihe neben uns, ich glaube Glen war sein Name, acht dieser Kisten füllte, und zwar allein, hatte uns damals den Rest gegeben. Es war frustrierend gewesen. Das ging zu jener Zeit noch einige Tage so weiter. Es wurde einfach nicht besser mit unserem Verdienst. Wir begannen Glen zu beobachten, um herauszufinden was wir falsch machten. Glen war groß, hatte kurz geschorene Haare und ein ziemlich breites Kreuz. Seine Körpergröße war sicherlich ein Vorteil und auch sah es nicht danach aus, als würde ihm die schwere Pflücktasche etwas ausmachen, trotzdem konnte das nicht der Grund seiner Schnelligkeit sein. Aber außer diesem entdeckten wir nichts. Er bewegte sich sogar noch langsamer als wir. Also was war es? Wir konnten es uns nicht erklären. Darum gingen wir auf ihn zu und baten ihn, uns einige Tipps zu geben. Er tat es nicht. Lächelnd gab er uns zu verstehen, dass er niemandem seine Technik verraten würde. Er meinte: „Je langsamer alle anderen arbeiteten, desto mehr Geld bleibt im Endeffekt für ihn, da die Ernte länger dauern würde.“ Und er verdiente, in unseren Augen, ein Vermögen. Und das durch „Äpfelpflücken“. Unglaublich. Was sollten wir machen?
Man müsste wohl sehr gut mit ihm befreundet sein, damit er einem sein Geheimnis verraten würde. Aber das wird nicht mehr passieren, so dachten wir. Wir mussten uns mit unserem Verdienst abfinden.
Am nächsten Tag waren wir alle wieder am arbeiten, als die Sprecherin aus Glens Radio gerade den Einmarsch der amerikanischen Truppen in den Irak verlautete. Ich stand auf meiner Leiter und begann herzhaft und aufgebracht über die Amis herzuziehen. Glen arbeitete weiter. „Was für Idioten es doch seien. Alles nur wegen dem Öl. Total bekloppt sind die doch.“, sagte ich laut. Glen hörte mit der Arbeit auf. Er schaute zu mir hoch. Ich aber schrie weiter: „Wie „fucking“ dumm die doch alle seien. Wenn die ein bischen mehr „fucking“ Verstand hätten, würde es uns allen besser gehen.“. “Ihr seid aus Deutschland, nicht wahr?”, fragte er mich plötzlich. „Ja.“, antwortete ich, wobei ich mich freute, dass er sich an der Unterhaltung beteiligte. Ich fragte ihn: „Kommst Du eigentlich hier aus Neuseeland?“ „No, I’m from America.“
Glen hatte mich nicht gehauen. Auch hatte er mich nicht mit einem Apfel von der Leiter geschossen. Um ehrlich zu sein, nichts dergleichen geschah. Er war nämlich meiner Meinung gewesen. Er lebte schon zu lange im wunderschönen Neuseeland und betrachtete Amerika nun mit unterschiedlichen Augen, wie er uns erklärte. Das Eis war gebrochen. Schon kurze Zeit später erklärte er uns seine Pflücktechnik. Ob man es glaubt oder nicht: Schon am nächsten Tag verdoppelten wir unseren Anzahl der Kisten.
Auch in Irland gingen wir schon zweimal dieser Arbeit nach. Durch den ersten Einsatz finanzierten wir uns damals das Geld für unsere Europareise. Beim zweiten Mal sparten wir uns das nötige Geld für Kanada. Nun aber standen wir auf unseren Leitern in Australien. Bereit zur harten und eintönigen Arbeit. Und wofür? Wahrscheinlich nur, um wieder einmal eine Werkstattrechnung zu begleichen. Es war enttäuschend gewesen. Aber es gibt Schlimmeres. Es hatte die Nacht zuvor geregnet. Dadurch war der Boden matschig und aufgeweicht und verbliebenes Regenwasser tropfte von jedem einzelnem Blatt. Pflückte man einen Apfel, lief das Wasser, trotz Regenkleidung, langsam den Arm herunter und danach sogar den Oberkörper. Das war sehr unangenehm und eine Sache, die wir von unseren vorherigen Erntearbeiten absichtlich vergessen hatten. So waren wir in kürzester Zeit bis auf die Knochen durchgeweicht.
Es hatte nicht lange gedauert bis Annes Schrei mich erreichte. Ihre Gummistiefel waren wegen des nassen Grases rutschig geworden und sie schlitterte somit in einem „Affenzahn“ von der vorletzten Sprosse ihrer Leiter. Als ich ihr zu Hilfe eilte hing sie noch im Baum. Das rechte Bein in einer Astgabel und ihr Linkes wedelte angewinkelt durch die Luft. Mit der linken Hand hatte sie etwas Halt an einem Ast gefunden, dieser war aber nicht besonders stabil. Ihr rechter Arm baumelte vor ihrem Gesicht, welches Richtung Boden blickte. Annes kraftvolles Stöhnen ließ die Anstrengung nicht verkennen, mit welcher sie mühsam versuchte, sich aus dieser akrobatischen Position zu befreien. Ich kam zu spät. Es machte nur „Flutsch“, als sich ihr rechter Fuß aus dem Stiefel löste und sie mit einem Mal zu Boden krachte. Genau neben dem Stamm. Es war nicht ihr erster „Flugversuch“, und sollte auch nicht der Letzte gewesen sein.
Mein letzter Sturz war in Irland. Ich konnte damals nicht genau erkennen wo ich meine Leiter anlehnte. Der Baum war einfach zu hoch. Langsam kletterte ich hinauf. Es dauerte eine Weile, bis die ersten Äste begannen. Aber Äste waren gut, bedeuteten sie doch Sicherheit. Denn falls einem die Leiter wegrutscht, konnte man sich wenigstens noch an einem dieser festhalten. Ich stand auf der drittletzten Stufe. Den einzigen Halt, den ich bekam, verschaffte ich mir durch meine Knie, welche ich gegen die letzte Sprosse lehnte. Ich begann zu pflücken. Einen Augenblick später, ich stopfte gerade beidarmig die restlichen Äpfel in den Beutel, nahm ich dieses leise Knacken wahr. „Oh mein Gott.“, sagte ich hauchend. Das war nicht gut. Mein Beutel war gefüllt und somit zu schwer geworden. Da wieder, das Knacken. Ich schob mit meiner linken Hand zitternd einige Blätter zur Seite und erkannte deutlich, dass meine Leiter an nur einem einzigen Zweig anlehnte. Dünner als mein kleiner Finger drohte dieser zu brechen. Ich traute mich nicht zu bewegen. Was sollte ich tun? Ich suchte nach einem dicken Zweig oder Ast, auf welchen ich etwas Gewicht verlagern konnte. Aber ich kam nicht mehr zum Verlagern. „Kawusch!“ Es ging alles sehr schnell. Der winzige Zweig war mit einem leisen „Knicks“ gebrochen und das Gewicht meiner vollen Pflücktasche drückte mich so schnell nach unten, dass ich nicht mehr sagen kann, ob ich einmal oder zweimal aufprallte. Ich landete auf meinem Rücken, auf der Leiter. Da lag ich. Die Äpfel aus meiner Pflücktasche hatten sich im großen Umkreis verteilt. Das Atmen fiel mir anfangs schwer. Mein Gummistiefel steckte noch zwischen zwei Sprossen und mein Fuß tat mir weh, denn dieser steckte noch im Gummistiefel. Aber wenigstens konnte ich meine Füße noch spüren, dachte ich. Anne war damals bei diesem Bild in Gelächter ausgebrochen, da sie nicht wusste, dass ich zu solchen Verrenkungen in der Lage war.
Dieses Mal war ich derjenige der lachte. Denn Anne knallte fast täglich von ihrer Leiter. Wir hatten uns sogar schon darauf geeinigt, dass ich erst loslaufen bräuchte, falls nach ihrem jeweiligen Schrei kein sofortiges „Ist Ok.“ kam.
So arbeiteten wir zweieinhalb Wochen auf dieser Farm und machten uns auf nach Perth. Denn wir bekamen Besuch.
Es war nicht einfach eine Entscheidung zu treffen. Woher sollten wir auch wissen ob wir es bis Anfang Mai nach Perth schaffen würden. Es kamen damals nur zwei Orte mit internationalem Flughafen in Frage: Perth oder Melbourne. Diese liegen jedoch circa dreitausend Kilometer voneinander entfernt. Und erfahrungsgemäß ist eine solche Strecke mit unserem Auto wie Russisch Roulette.
Somit beschwichtigten wir Jessie und Johnny anfangs nur mit ungenauen Angaben. Zwar hatten sie dadurch wahrscheinlich das Gefühl wir hätten kein Interesse an ihrem Besuch. Aber dem war nicht so, ganz im Gegenteil. Wir freuten uns riesig auf ein Wiedersehen. Es war halt schlicht unmöglich, in unserer mechanischen Verfassung und der Größe Australiens, bereits Mitte Februar eine präzise Angabe zu machen, wo wir uns Anfang Mai befinden würden.
Zu dem Zeitpunkt unserer Entscheidung mit dem kaputten Zylinderkopf durch das Nullarbor nach Western Australien zu fahren jedoch, erledigte sich dieses kleine Problem von selbst. Damals standen wir bekanntlich vor der Wahl entweder in der Provinz Victoria nach Arbeit zu suchen, was zu dieser Zeit fast aussichtslos gewesen war, oder mit kaputtem Motor durch eines der größten Niemandslande Australiens zu tuckern.
Da wir uns halt für die wahrscheinlich aufregendste Autofahrt unseres Lebens entschieden hatten, waren wir zumindest in der Lage gewesen Jessie und Johnny eine konkrete Antwort zu geben: „Wir treffen uns in Perth“.
Wir bewältigten die circa zweitausend Kilometer durch das Nullarbor mit unserem defekten Auto. Auch fanden wir Arbeit, was sich nach Ankunft in Western Australien als nicht sehr einfach erwiesen hatte. Und zudem hatten wir es geschafft nach nur zwei Wochen Apfelernte das Auto zu reparieren und uns genügend Taschengeld für unseren Besuch zu ersparen. Wir waren stolz darauf alles gemeistert zu haben.
So standen wir abends, am fünften Mai, auf dem Flughafen von Perth und warteten auf die Ankunft unserer japanischen Freunde Jessie und Johnny. Und wir konnten es nicht glauben, dass seit unserer letzten Begegnung schon drei Jahre verstrichen waren.
Wir hatten Jessie vor über vier Jahren, während unseres ersten Australienaufenthaltes, kennen gelernt. Wir hatten beinahe fünf Monate zusammen in einer Wohngemeinschaft in Cairns gelebt. Es war eine fantastische Zeit gewesen und wir hielten über all die Jahre ständigen Kontakt. Ihr richtiger Name schreibt sich Yasue und gesprochen wird er so ungefähr „Jassuhae“. Ich weiß es noch wie heute, als ich ihr das erste Mal gegenüber stand und versucht hatte ihren Namen richtig auszusprechen. Immer und immer wieder, jedoch ohne Erfolg. Auch Anne gelang es nicht. Wir sprachen ihren Namen so falsch aus, dass wir sie jedes Mal „Prostituierte“ nannten, wie sie uns damals erklärte, und was sie natürlich als nicht besonders lustig empfand. Wir beschlossen danach kurzer Zeit sie einfach Jessie zu nennen. Sie mochte den Namen.
Johnny lernten wir dann vor circa drei Jahren in Japan kennen. Ein lustiger Typ. Wir waren zu jener Zeit zu ihrer Hochzeit eingeladen, was sich für uns als eine unvergessliche Erfahrung offenbarte. Die gesamte Zeit mit ihnen war prägend gewesen. Den englischen Namen „Johnny“ hatte er sich damals selbst gegeben. Ich glaube aus Mitleid zu uns. Wir konnten seinen japanischen Namen „Ryuuta“ (gesprochen: „Dljutha“) zwar vernünftig aussprechen, sahen aber dabei aus, als würden uns unsere Zungen aus den Gesichtern schlenzen. Außerdem dauerte es so ungefähr zwanzig Sekunden bis er merkte, dass wir ihn ansprachen. So gebot er uns während eines erneuten Versuches ihn anzusprechen Einhalt, indem er seine Hand zu einem Stoppzeichen formte, danach mit dem Zeigefinger auf seine Brust tippte und sagte: „Johnny!“. So bekam er seinen Namen. Er war damals großer John Bon Jovi Fan und ich denke er empfand sogar einen gewissen Stolz diesen neuen Namen zu tragen.
Der Flughafen war ziemlich beschäftigt zu dieser späten Stunde. Hunderte von Menschen bewegten sich zielstrebig durch die Halle. Aber nicht alle waren in Bewegung. Wir sahen einige Reisende wie sie vergeblich versuchten, es sich auf einer der harten Sitzbänke gemütlich zu machen um zu schlafen. Diese waren jedoch viel zu klein und glatt und wir mussten lachen als wir beobachteten, wie sie kontinuierlich versuchten sich in eine bequeme Position zu drängeln. Ein dicker Mann hatte dennoch seine Schlafstellung gefunden. Er lehnte sich einfach zusätzlich an seine kleine Frau. Er hatte seinen Kopf auf ihre rechte Schulter gelegt und sein schwerer Körper drängte sie soweit nach Links, dass sie, verglichen zur Sitzbank, bereits einen fünfundvierzig Grad Winkel formte, wodurch es aber für den Dicken immer bequemer wurde.
Dann wurden wir Zeuge, wie ungefähr zwanzig Polizisten und Flughafenangestellte eine alte, abgewetzte Reisetasche umzingelten. Sie war anscheinend gefährlich und von ihrem Besitzer verlassen worden und die Ordnungshüter taten so, als hätte sich Osama Bin Laden persönlich in ihr verkrochen. Sie deuteten allen Passagieren per Handzeichen der Tasche nicht näher zu kommen, während sie eine Absperrung aus schwarzgelbem Plastikband zogen. Die Reisenden kümmerte dieser alte Lederbeutel allerdings mächtig wenig. Niemand zeigte irgendeine Reaktion, während die Gesetzeshüter weiterhin anhand verschiedener Gesten vor der gefährlichen Tasche warnten. Es war irgendwie ein lustiges Schauspiel; denn alle Leute gingen völlig gelassen ihrem normalen Trott nach, während es innerhalb der Absperrung aussah, als drehten sie eine Szene aus „Stirb Langsam 2“.
Wir standen hinter der schwarzgelben Markierung und konnten es kaum glauben welch ein Schauspiel wir hier des Nachts geboten bekamen. Da war nicht nur die kleine Frau, welche inzwischen vergeblich versuchte, sich aus ihrer Position zu befreien indem sie mit ihrer linken Hand gleichmäßig gegen den großen Schädel ihres Mannes hämmerte um ihn zu wecken, sondern auch ein Antibombenkommando, welches nun zu dritt vorsichtig die Tasche öffnete. Was passiert denn ständig auf unseren Flugplätzen? „Ziehen Sie bitte ihre Schuhe aus.“, „Der Nagelknipser könnte eine tödliche Waffe sein und darf nicht an Bord.“, „Der Deoroller muss in eine extra Plastiktüte verpackt sein, zusammen mit der Zahncreme.“, „Nehmen sie bitte ihre Kamera auseinander, da könnte eine Bombe drin sein.“ und, und, und. Dazu solch ein Drama wegen einer Tasche. Wieso nur auf Flughäfen? Bei unserer letzten Fährfahrt nach Norwegen hätten wir eine ganze Wagenladung voller TNT auf der Fähre platzieren können, denn es kontrollierte nicht einmal jemand unsere Reisepässe.
Zu dem Zeitpunkt jedenfalls, als die kleine Frau sich aus ihrer schmerzhaften Lage befreit hatte und das Bombenkommando die stinkenden Socken wieder zurück in die Tasche legten und einen falschen Alarm verkündeten, kamen Jessie und Johnny durch die Schiebetür. Natürlich waren wir aufgeregt, hatten wir doch drei verstrichene Jahre wieder aufzuholen. Dazu blieben uns allerdings nur fünf Tage mit den beiden, denn danach ging ihre Reise schon weiter nach Japan. Sie hatten gerade ihren einjährigen Aufenthalt in Neuseeland beendet und nutzten somit den Heimflug für ein Wiedersehen in Australien.
Für Johnny war es der erste Besuch „downunder“ und Anne hatte aus diesem Grund schon eine ellenlange Liste mit Sehenswürdigkeiten aufgestellt, welche wir aufsuchen könnten, um besonders ihm „Australien“ ein kleines Stückchen näher zu bringen. Aber schon nach der ersten Nacht, wir hatten uns eine kleine Hütte auf einem Zeltplatz in der Nähe des Flughafens gemietet, stellten wir gemeinsam fest, dass eigentlich gar kein besonderes Interesse an stundenlangen Autofahrten bestand, nur um einige angeblichen Attraktionen zu besichtigen, diese lagen nämlich zig Kilometer voneinander entfernt. Wir wollten einfach nur beisammen sein.
Es gab so viel zu berichten, da blieb keine Zeit für stressige Touren und die Sehenswürdigkeiten schienen auf einem Mal bedeutungslos. So kauften wir Essen für die uns verbliebenen Tage, fuhren südlich von Perth ans Wasser, mieteten uns erneut einen Bungalow auf einem Zeltplatz und genossen unsere Zeit zusammen. Es wurde viel gekocht. Anne und ich bekamen von den beiden wieder köstlichstes, japanisches Essen vorgesetzt und wir versuchten es ihrerseits mit einer deutschen Diät. Ordentlich Butter, damit sie groß und fett werden, wie wir ihnen sagten. Somit verschwand ihr Interesse an der deutschen Küche schnell und in den darauf folgenden Mahlzeiten kochten wir gemeinsam aufwendige asiatische Köstlichkeiten.
Ansonsten verbrachten wir viel Zeit am Strand. Die beiden berichteten viel über ihren Aufenthalt in Neuseeland und wir erzählten unter anderem von unserer Reise durch das Nullarbor, den vielen anderen Autopannen sowie von der unglaublich schmerzhaften Erfahrung unserer chinesischen Vollkontaktmassage. Aber wir waren noch nicht einmal bei der Hälfte unserer Geschichten, da standen wir auch schon wieder auf dem Flughafen um Jessie und Johnny zu verabschieden.
Wir konnten es nicht glauben, wie schnell die fünf Tage verstrichen waren und es entstand ein rege Diskussion über ein baldiges Wiedersehen. Wann und wo, dass müssen wir einfach abwarten.
Wir standen noch am Fenster der Flughafenhalle und beobachteten den Flieger bis er aus unserem Blickfeld verschwand. Jessie und Johnny waren auf dem Weg nach Japan. Unser Urlaub war also vorüber und wir sahen uns abermals mit bekannten Problemen konfrontiert: keine Arbeit, ein Auto was nicht hundertprozentig funktionierte und einen nur dreistelligen Betrag auf dem Konto, welcher uns mit Sicherheit nicht allzu lange über Wasser halten würde.
Wir brauchten Arbeit, und zwar schnell, hatten aber infolgedessen eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Zurück nach Manjimup, zur Apfelernte, oder in den Norden Australiens fahren. Die Arbeit in Manjimup war uns sicher, hätte allerdings nicht mehr viele Wochen in Anspruch genommen. Außerdem begann der Winter, was unser Leben im Bus deutlich erschweren würde, da es im Süden Australiens zu dieser Jahreszeit ziemlich kalt werden kann. Zusätzlich hatten wir langsam das Gefühl, uns liefe die Zeit aus. Genau fünf Monate waren uns geblieben und in diesem Zeitraum die gesamte West- und Nordküste zu bewältigen, klang nach einer ziemlich großen Herausforderung. Wir hatten uns nämlich das Ziel gesetzt in Cairns, also im Nordosten Australiens, unsere Reise zu beenden.
Ob wir uns diesen Wunsch jedoch erfüllen könnten, war in jenem Augenblick wirklich nicht vorhersehbar. Eine weitere Autoreparatur oder einfach nicht genügend Arbeit, könnte unserem Australientrip ein vorzeitiges Ende bereiten. Es sprach also alles dafür, nicht zurück nach Manjimup zu fahren und nochmals auf der Apfelplantage zu arbeiten. Trotzdem kamen Zweifel in uns auf. Der nächste Ort, wo es uns vielleicht möglich wäre, Arbeit zu finden, heißt Carnarvon und liegt so ungefähr eintausend Kilometer von Perth entfernt. Es gibt dort viele Obst- und Gemüsefarmen und ist somit einer der wenigen Anlaufspunkte für arbeitsuchende Backpacker in Western Australien.
Würden wir aber in Carnarvon keine Arbeit bekommen, wäre die nächste Möglichkeit erst in Broome. Die Entfernung zwischen Perth und Broome jedoch beträgt mehr als zweitausendvierhundert Kilometer. Uns wurde auf einem Mal die Tragweite eines solchen Unterfangens bewusst. So sah es aus in Western Australien: Wenig Orte, somit kaum Arbeit und Entfernungen zwischen Orten, welche für uns, als Deutsche oder gar als Europäer, nicht vorstellbar waren.
Wir erinnerten uns an unsere erste Australienreise. Damals kamen wir aus dem Norden Richtung Süden gefahren. Wir hatten zu jener Zeit vorab in Darwin bei der Mangoernte gearbeitet, dort zwar wegen Streitigkeiten mit dem Boss unseren Job gekündigt, aber in nur drei Wochen dennoch genügend Geld gespart, um ohne größere Probleme die West- und Südküste bis nach Melbourne zu bereisen. Die enorme Strecke durch pure Natur war damals jedenfalls kein Hindernis gewesen, war unser alter VW Bus „Mo“ doch sehr zuverlässig. Deshalb gingen wir die gesamte Westküste seinerzeit natürlich sehr gelassen an.
Dieses Mal dagegen waren wir nicht so zuversichtlich. Unser Auto war eine tickende Zeitbombe, wobei wir ständig damit rechnen müssten, dass diese platzt und unser Budget war bei Weitem nicht ausreichend, um sorglos unterwegs zu sein. Aber entgegen all unserer Bedenken entschieden wir uns, die Fahrt in den Norden zu beginnen. Immerhin war es nicht das erste Mal für uns, vor solchen Problemen zu stehen und mit Gewissheit nicht das Letzte Mal. Wir waren langsam sicher den richtigen Entschluss getroffen zu haben. Um ehrlich zu sein kam sogar Freude in uns auf und die Aussicht auf wärmeres Wetter vertrieb selbst unsere letzten Zweifel. Der Abschnitt „Apfelernte bei kaltem Wetter“ war folglich abgeschlossen, ein neues Kapitel konnte geschrieben werden.
Wir machten uns auf. Das bestehende Problem mit unserem Auto konnten wir nicht beseitigen. Wir hatten es vor dem Urlaub mit Jessie und Johnny noch einmal in eine Werkstatt gebracht, aber der Mechaniker konnte beim besten Willen keinen Fehler bei unserer Benzinzufuhr finden. Er meinte, es könnte am kälteren Wetter liegen und dass weiter oben im Norden wieder alles normal funktionieren würde. Für uns klang das ausreichend. Es war natürlich beängstigend auf diese Weise mit dem Auto in den Norden zu starten, aber was sollten wir tun. Es war ziemlich klar, dass das gelegentliche Stottern und Verlangsamen des Motors mit der Benzinzufuhr zu tun hatte, aber da der Mechaniker kein eindeutiges Makel gefunden hatte, schlossen wir mit diesem Thema ab.
Wir waren es leid und hofften einfach auf das Beste. So verließen wir Perth und kamen wieder langsam in unseren gemeinsamen Reisealltag hinein. Wir waren sehr zuversichtlich was die Arbeitsuche in Carnarvon betraf. Hatten wir doch auch bei anderen Backpackern in Erfahrung bringen können, dass es wirklich außer Frage stand, bei solch einer Masse an Farmen in dieser Region, Beschäftigung zu finden. Voller Energie und Abenteuerlust fuhren wir gen Norden. Das Wetter wurde immer besser und wir konnten es kaum abwarten uns all die schöne Orte auf dem Weg nach Carnarvon anzuschauen. Danach würden wir uns dort Arbeit suchen, unser Budget auffrischen, um folglich unsere verbliebene Zeit in Australien sorgenfrei zu genießen. Es wäre zu schön gewesen, hätte sich dieser Wunsch erfüllt.