„Schläft sie noch?“, fragte ich, als Anne wie ein Geheimagent in die Sitzreihe vor uns lugte. „Ja ich glaub…Mist.“
Wir saßen im Flugzeug genau über der Tragfläche und hatten uns gerade für die Landung angeschnallt. Vor uns saß eine Mutter mit ihrer Tochter und wir hatten mitbekommen wie sie sich kurz zuvor, während unserer Zwischenlandung in Kampala, mit einem Mann über Kigali unterhielt. Sie hatte offensichtlich ausreichend Kenntnis über die Hauptstadt Ruandas und für uns war es Grund genug um unsere Spionagetaktiken anzuwenden und somit sämtliche brauchbaren Informationen aufzusaugen.
Wir waren sehr aufgeregt so kurz vor dem Ziel und die ungeklärten Fragen in unseren Köpfen verdoppelten sich im Minutentakt. Deshalb brauchten wir Antworten. Aber wir kamen nicht mehr dazu sie zu bespitzeln, denn im selben Augenblick, als wir gerade unsere Sitzhaltung änderten um besser verstehen zu können, war ihre Unterhaltung vorbei und sie war eingeschlafen.
Unsere Nervosität wurde dann letztlich nur bedrückender, denn in kurzer Zeit würden wir den Schwarzen Kontinent betreten und um es kurz zu fassen, wir hatten keinen blassen Schimmer von Afrika.
Niemals zuvor waren wir hier gewesen und auch hatten wir im Internet kaum für uns brauchbare Informationen über Ruanda finden können. Der Genozid lag siebzehn Jahre zurück, das wussten wir und Ruanda galt zurzeit als eines der sichersten Länder Afrikas, aber ich müsste lügen, wenn ich sage, wir wären mit einem guten und sicheren Gefühl aus Deutschland abgeflogen.
Die Maschine ruckte stark als sie den Boden berührte und man konnte deutlich hören, dass sie bereits in die Jahre gekommen war.
„Sie ist wach.“, bemerkte Anne und begab sich sogleich in eine Abhörposition, in der Hoffnung die Frau würde ihr Gespräch mit dem Mann vor ihr wieder aufnehmen. Sie klemmte dabei ihr rechtes Ohr zwischen die beiden Vordersitze, hatte ihren Mund etwas geöffnet und blickte abwesend an mir vorbei Richtung Fenster. Sie sah aus als läge sie im Wachkoma und würde erst dann wieder erwachen, sobald eine nützliche Information über Ruanda fallen würde.
Mir war jedoch nicht nach spionieren zu mute und der Gedanke, dass wir gerade gelandet waren und wir eigentlich gar nicht genau wussten, wo wir die erste Nacht schlafen sollten, holte mich in diesem Moment wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
Es gab also kein zurück mehr, denn wir waren in Afrika angekommen.
Das Anschnallzeichen erlosch und die verbliebenen zwanzig Passagiere, alle anderen waren in Kampala, der Hauptstadt Ugandas, ausgestiegen, erhoben sich von ihren Sitzplätzen. Das Flugzeug wirkte deshalb etwas gespenstisch, denn die wenigen Menschen verteilten sich über den gesamten Sitzbereich.
Das circa zweihundert Menschen in Uganda aussteigen und nur etwa zwanzig in Kigali, baute uns nicht besonders auf.
„Ich glaub’ hier will keiner her.“ „Was?“ „Ich hab gesagt ich glaub’ hier will keiner her.“ “Wie bitte?” „Schon gut Annemaus.“ Anne kam gerade wieder ins Leben zurück und wir bemerkten, dass die Frau vergeblich versuchte, ihren Handkoffer aus der Gepäckklappe zu ziehen.
Sie war zu kurz und selbst mit ausgestreckten Armen, erreichte sie die Öffnung nicht.
Anne eilte ihr zur Hilfe und genau deswegen lernten wir Regina kennen.
Regina lebte vor einiger Zeit für drei Jahre hier in Kigali. Sie arbeitete damals für den Deutschen Entwicklungsdienst, wo sie für den Bau von neuen Straßen verantwortlich war. Seitdem kommt sie jedes Jahr hierher zurück, denn auch sie wurde eindeutig vom afrikanischen Fieber gepackt, wie sie uns erzählte. Ihre zwölfjährige Tochter Sarah ist zum zweiten Mal mit in Ruanda, muss aber dieses Mal hier zur Schule, da sie in Deutschland kein Schulfrei bekam. Das fand sie doof, wie sie sagte.
Regina war Mitte Fünfzig und sie hatte so einen afrikanischen Frauenturban auf dem Kopf, was ihre Afrikaerfahrung vermutlich unterstreichen sollte.
Der Flughafen war sehr klein, was uns automatisch viel verlassener vorkommen ließ als üblich. Ein einziges Gepäckband nahm den größten Teil der Halle ein. Drei Schalter dienten der Passkontrolle, aber nur zwei davon waren besetzt. Die Kontrolleure sahen gelangweilt aus. Kein Wunder dachte ich wenn in den drei Maschinen die hier täglich landen nur jeweils zwanzig Leute sitzen. Da gibt’s dann nicht viel zu tun.
Wir gingen zur Gepäckausgabe. „Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott, was machen wir denn wenn es nicht ankommt? Wir können doch nicht hier ohne Sachen…“ Ich war besorgt, denn unser Gepäck war wieder das letzte auf dem Band und dieser Umstand löste beinahe eine Panikattacke aus.
„Warte doch erst einmal ab Bunki.“ „Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott…“ „Nun reiß’ dich doch mal zusammen. Guck mal, da ist doch schon unser Rucksack.“ „Ich kann mich einfach nicht an diese Förderbänder gewöhnen. Jedes mal stehe ich davor, schwitzend vor Angst, das Gepäck könnte nicht ankommen.“
Regina und ihre Tochter waren schon los. Wir hatten uns zum Abendessen verabredet, was uns freute, denn hatten wir doch immer noch unsere Köpfe voller Fragen.
Bevor sie jedoch aufbrach sagte sie uns noch, wir sollten nicht mehr als zehn Dollar für ein Taxi in die Stadt bezahlen. Das war gut zu wissen, denn üblicherweise sind für uns die ersten Tage in einem neuen Land immer die Schwierigsten. Zumindest preislich gesehen da man überhaupt keine Ahnung hat, was teuer ist und was nicht. Man hat ja auch keinen Vergleich.
Also wenn ich in den ersten Shop marschiere um mir ein Wasser zu kaufen, könnte mir der Verkäufer sonst etwas berechnen und ich hätte keinen blassen Schimmer ob der Preis gerechtfertigt wäre oder mir gerade die „Sie-kommen-aus-einem-anderen-Land-also-bezahlen-sie-auch-mehr-Steuer“ mit raufgerechnet wurde.
Deshalb war es überaus hilfreich zu wissen, dass eine Fahrt ins Zentrum zehn Dollar kosten sollte.
Wir hatten vorab noch mit dem Taxifahrer diskutiert, aber die erwähnte Steuer wurde von ihm mit einem Grinsen und ohne Skrupel eingefordert. „Wir zahlen ihm nicht soviel.“, bestimmte Anne. „Du gibst ihm Zehn, so wie es Regina gesagt hat.“ „Mensch Annemaus, Regina war lange nicht mehr hier und der Fahrer hat bestimmt ’ne Machete unterm Sitz und hackt mir ’n Bein ab.“ „Naja vielleicht, aber gib’ ihm trotzdem nur Zehn!“ „Wie bitte?“
Ich hatte keine Lust mir irgendetwas abhacken zu lassen und so bezahlte ich die geforderten zwanzig Dollar.
Wir fuhren zu einem Hostel, welches wir in unserem Reiseführer ausfindig gemacht hatten. Es sollte ebenfalls zwanzig Dollar kosten und ich fragte mich ob das nun der gängige Preis für „alles“ wird. Aber ich lag falsch. Das Zimmer war nämlich teurer und wahrscheinlich trotzdem noch eines der günstigsten in der Stadt. Wir waren baff.
Die Preise hatten sich offensichtlich, im Widerspruch zu unserem zwei Jahre altem „Einsamer Planet“ Reiseführer, verdoppelt.
„Das wäre ja Kacke, wenn alles jetzt teurer ist als erwartet.“ „Nee, das ’s bestimmt nur in Kigali so.“ „Hoffentlich!“
Demütig bezahlten wir für die ersten Nächte, waren aber froh eine Bleibe gefunden zu haben.
Das Zimmer war im Grossen und Ganzen okay und im Grunde alles was wir für den Anfang benötigten.
Es war circa drei mal drei Meter in dessen Mitte ein zwei mal zwei Meter Bett stand. An der unteren linken Ecke des Holzgestells war eine kleine Pfütze. Dem Anschein nach regnete es durch das Dach und eigentlich hatten wir den Raum noch nicht einmal betreten, da war Anne schon in sie hinein getreten und Arme und Beine schwingend, am Bettrand entlang geschlittert. Sie fing sich zum Glück am Türrahmen des Badezimmers ab. „Oh das is aber gefährlich da. Da musst du aufpassen, Hasi.“ „Ja danke, Schatz.“
Ich war froh über ihren Hinweis, aber noch etwas geschockt, da ihre Rutschpartie wiedermal ein fatales Ende hätte nehmen können, was Anne wiederum, immer noch am Türrahmen hängend, nicht wirklich zu realisieren schien.
„Das Badezimmer ist schön groß, Hasi…“ „Gut.“, sagte ich beruhigt. „…aber das Licht geht nicht.“ Sie hielt sich immer noch gebeugt am Rahmen fest und hatte dabei den Schalter mit einer Hand ertastet. „Nicht so schlimm…“, sagte ich kopfschüttelnd. „…ich sag nachher vorne bescheid.“
Am späten Nachmittag schlenderten wir dann langsam durch das Zentrum zum Italiener. Wir hatten uns dort zum Abendessen mit Regina und ihrer Tochter verabredet.
Kigalis Zentrum widersprach vollkommen meinen Erwartungen. Hier waren keine Frauen die Körbe auf ihren Köpfen über staubige Sandstrassen trugen, auch keine Kinder mit dicken Bäuchen und Fliegen im Auge die verlassen vor zerfallenden Häusern hockten.
Ganz im Gegenteil.
Auf den ersten Blick erschien uns Kigali als eine hochmoderne Metropole. Wolkenkratzer aus Glas und Beton, an welchen leuchtende Reklameschilder strahlten, ragten über sämtlichen Häusern empor. Die Strassen waren neu und wir kamen an einem Kreisverkehr vorbei, in dem ein Springbrunnen stand und welcher die verschiedensten Fontänen versprühte.
Auffallend teure Autos drängelten sich hupend durch den belebten Verkehr und Menschen in Anzügen und Handy am Ohr, rannten beschäftigt die Wege entlang. Wir waren beeindruckt.
Das hatten wir wirklich nicht erwartet. „Mensch is’ das sauber hier.“, bemerkte Anne dazu. „Stimmt.“, antwortete ich nicht weniger bewundernd. Es war wirklich kein Dreck auf den Straßen zu finden. Keine leeren Dosen oder Plastikflaschen, ja nicht einmal ein Fitzelchen Papier war auf den Gehwegen zu entdecken.
Die Bauweise mancher Gebäude ließ jedoch zu wünschen übrig, denn auf den zweiten Blick sah man deutlich, dass so manch ein Eimer Farbe vorab dazu diente, um die Spalten und Risse im Beton zu übertünchen. Nach außen hin machte das Zentrum der Hauptstadt Ruandas also einen kultivierten Eindruck.
Aber der äußere Schein trog doch sehr, wie wir in den nächsten Wochen noch feststellen sollten.
Die Strassen waren irrsinnig belebt. Überall Menschen und Anne und ich stachen aus der Menge wie zwei Stückchen geronnene Milch im Kaffee.
Die Leute begafften uns förmlich und man bekam den Eindruck, sie hätten in ihrem Leben noch nie eine weiße Person zu Gesicht bekommen. Es war etwas eigenartig, aber vielleicht lag es auch einfach nur an uns. Denn immerhin glotzten wir selber in die Menschenmassen, wie zwei dusselige Tauben auf dem Dach.
Wir kamen zum Restaurant.
Die Pizza beim Italiener war überraschend gut, aber im Grunde nicht unbedingt das, was wir uns als erstes Essen in Ruanda vorstellten. Dennoch waren wir froh endlich unsere angestauten Fragen auf Regina loszulassen.
Regina hatte außer ihrer Tochter noch eine alte Freundin mitgebracht. Loredana ihr Name und sie stammt ursprünglich aus Italien, lebt aber bereits seit zwanzig Jahren in Kigali. Sie war nur während des Bürgerskrieges 1994 aus dem Land geflohen, da die Zustände damals unerträglich wurden.
Ich schätzte sie auf Mitte Fünfzig und Anne und ich waren sofort von ihrem typisch italienischen Temperament gefangen. Wenn sie erzählte, flogen ihre Arme dermaßen kreisend über den Tisch, dass sämtliche Augen im Restaurant auf uns gerichtet waren. Jedes Wort wurde mit einer passenden Hand oder Armbewegung interpretiert. Man hatte deshalb das Gefühl sie würde jeden Augenblick explodieren. Ich stellte mir vor, wie ich in diesem Falle meinen großen Pizzateller als Schutzschild benutzen würde. Anne hatte Pasta in einer Schale, also keinen Schutz.
Loredana fragte uns dann nach unserem Grund, Ruanda zu besuchen, wobei sie wieder beide Arme hob und mit flachen Händen eine beinahe betende Geste machte. „Wott’a brings’a ju tu’a Ruandaahh, mei fräntz?“
Wir erzählten ihr von unserem Vorhaben, hier in Ruanda, eine Reisedokumentation zu produzieren. Einen Film über das Rucksackreisen mit allen Höhen und Tiefen, die wir selbstverständlich zu jenem Zeitpunkt nicht vorhersagen konnten.
Sozusagen eine Reportage nach dem Motto „Anne und Bunki unterwegs in Ruanda“. Regina hörte auch aufmerksam zu und wir erklärten den beiden unsere Gedanken zum gesamten Filmaufbau, vom Anfang in Kigali bis hin zum eventuellen Höhepunkt einer Vulkanerkletterung um eine Gruppe der seltenen Berggorillas zu suchen.
Bis dahin hätten wir aber noch einen langen Weg, da wir die nötigen Genehmigungen noch beantragen und die Strecke dahin noch recherchieren müssten, wie wir ihnen weiterhin erzählten.
Als wir den beiden dann schilderten, dass Stadtimpressionen von Kigali unausweichlich wären, da unser Film definitiv hier in der Hauptstadt beginnen sollte, begann Loredana wieder mit ihren Armen zu fuchteln.
Diesmal war es jedoch eine verneinende Geste. „Ju kenn not’ah duh sät’a, mei fräntz.“ Ihr Englisch war nicht besonders gut, aber wir verstanden den Satz sofort. „What do you mean?“, hakte ich nach um sicher zu gehen.
„Ihr könnt hier nicht einfach drehen. Habt ihr nicht die vielen Soldaten gesehen?“, so Regina. „Doch…“, sagte Anne und machte dabei einen ängstlich fragenden Gesichtausdruck.
Wir hatten natürlich die vielen Soldaten bemerkt und uns war nur allzu gut bekannt, dass es Ruanda verboten ist, Regierungsgebäude und Regierungsbeamte zu filmen und zu fotografieren, aber wir hatten ja nicht vor unsere Kamera aufs Ordnungsamt, falls es so etwas überhaupt hier gibt, zu richten und auf den Aufnahmeknopf zu drücken. Auch wollten wir keine Banken, Brücken, und Busbahnhöfe filmen. Selbst der Flughafen, denn auch der war strikt verboten zu fotografieren, war von uns nie in Betracht gezogen worden.
Alles was wir brauchten waren ein paar schöne Stadtbilder, also brauchbare Aufnahmen von Alltäglichkeiten. Aber wie um alles in der Welt sollen wir diese bekommen, wenn alle zwanzig Meter ein schwer bewaffneter Soldat postiert ist, fragte ich mich leise dahin.
Auch Anne schien ratlos, wie man ohne weiteres erkennen konnte. Sie hatte nämlich wieder ihren Wachkomablick, bei welchem sie reglos und mit offenem Mund auf ihre Pastaschale starrte.
Auf meine Frage, ob wir den Soldaten Geld geben könnten, wenn wir sie filmen wollten winkte nun auch Regina mit ihren Armen die Verneinungsgeste und beide tobten fast gleichzeitig: “Gefängnis…” und „Priiison’a, mei fräntz.“.
Anne und ich starrten uns an, brachten jedoch kein Wort mehr heraus.
„…die stecken euch sofort ins Gefängnis, wenn ihr sie bestechen wollt.“, sagte Regina weiter. Sie erklärten uns, dass es in Ruanda keinen Sinn macht irgendjemanden von den Behörden zu schmieren. Das mag vielleicht in anderen Ländern Afrikas sehr gut funktionieren, aber hier enden „beide“ Parteien sofort im Knast.
Korruption wird in Ruanda demnach ehrgeizig bekämpft und somit auch schwer bestraft.
Mein linkes Auge fing an zu zucken, was Anne sofort zu bemerken schien. „Alles okay, Hasi? Dein Auge zuckt.“ „Ich weiß auch nicht was das ist. Mir ist schlecht.“ „Mir auch.“
Als Loredana uns noch erzählte, wie vor wenigen Jahren von einem Soldaten auf sie geschossen wurde, war es um uns geschehen. Wir saßen mit heruntergeklappten Kiefern am Tisch und unsere Fassungslosigkeit verformte sich zu tiefen Augenfurchen. Sie schilderte uns demnach mit ihrem knappen Englisch und ihrer italienischen Körpersprache ausführlich dieses für sie kaum nennenswerte Ereignis. Der Soldat soll angeblich etwas betrunken gewesen sein, aber sie sei einfach mit dem Auto, das Einschussloch in der Fahrzeugseite, umgedreht und in eine andere Richtung gefahren.
Das war zuviel für uns. Da hat irgend so ein Bewaffneter aus Trunkenheit auf ihr weißes Auto gefeuert und wir wollten hier einen Film drehen? Wir sind doch auch weiß.
Ich stellte mir vor, und dass auch noch in Zeitlupe, wie Anne und ich an diesem Springbrunnen die Kamera auf das Stativ setzten um die Schönheit Kigalis einzufangen und durch einen Kugelhagel aus sämtlichen Richtungen Blut spritzend durchsiebt würden. Und das noch bevor wir überhaupt den kleinen roten Knopf für die Aufnahme betätigen konnten.
Ich hatte danach das Bedürfnis mich am Tischrand zu übergeben und mein Augenzucken schien nun einen anhaltenden Status einzunehmen. Die Frau am Nachbartisch glaubte deshalb ich würde ihr zuzwinkern um mit ihr zu flirten, aber ich konnte meinen Anfall nicht unterdrücken. Sie nickte mir jedenfalls grinsend zu, aber das war mir egal.
„Was machen wir bloß?“, fragte mich Anne. Ich hatte keine Ahnung.
Wir versuchten dann unsere Verzweiflung zu überspielen und plauderten mit den Dreien noch eine ganze Weile.
Auf dem Weg zurück ins Hotel sprachen Anne und ich kaum. Niedergeschlagen gingen wir dahin.
Wir wussten nun zwar, dank Regina und Loredana, wo Busstationen zu finden seien, wo wir günstig essen konnten und auch wo wir trotz Master Card, diese wird in Ruanda nämlich kaum akzeptiert, Geld abheben konnten. Außerdem hatten wir von ihnen gute Information über andere Orte im Land erhalten, worüber wir überaus dankbar waren. Wir hatten unsere angestauten Fragen also doch noch stellen können, aber ein befriedigendes Gefühl bekamen wir durch die Antworten trotz allem nicht.
Wir waren einfach entmutigt und stellten unser geplantes Filmprojekt zum aller ersten Mal in Frage und entschieden uns dafür Kigali erst einmal zu verlassen, um so vielleicht auf andere Gedanken zu kommen.
Deshalb beschlossen wir eine Safari zu unternehmen. Dazu liehen wir uns einen Jeep mit Fahrer und machten uns auf den Weg in den Akagera Nationalpark.
Der einzige Ort in Ruanda, wo man die Möglichkeit hat, typisch afrikanische Tiere zu beobachten.
Im Park selbst stieg dann noch ein Guide hinzu und unsere kleine Tour konnte starten.
Es kam wie erwartet. Der Anblick von Zebras, Giraffen, Krokodilen und Nilpferden ließ wenigsten für wenige Stunden unser Problem verschwinden und genau in diesem Zeitraum stellten wir uns nicht wieder und wieder die Frage: „Fahren wir heim oder wandern wir vielleicht ins Gefängnis?“
Wach lagen wir morgens in unserem Bett unter dem blauen Moskitonetz und starrten stumm an die Zimmerdecke. Das Moskitonetz hatte einige Löcher. Wir hatten diese am Abend zuvor mit zusammen geknülltem Toilettenpapier gestopft und nun sah es aus, als wollten wir kleine weiße Schäfchen im blauen Himmel zählen.
Die Matratze war unangenehm weich gewesen und wir waren daher während der Nacht unausweichlich in die Mitte gerutscht und klebten nun mit unseren verschwitzten Körpern wie Siamesische Zwillinge fest aneinander. Dennoch bewegten wir uns nicht.
Es war wirklich sehr ruhig und keiner von uns beiden wollte den ersten Schritt des Aufstehens wagen. Wir hatten nicht das Bedürfnis den Tag beginnen zu lassen, denn dass bedeutete unsere Sorge, keine vernünftigen Aufnahmen von Land und Leuten machen zu können, wäre wieder zum greifen nahe. Minute für Minute vegetierten wir auf diese Weise nachdenklich und ohne etwas zu sagen vor uns hin.
Die Stille wurde dann plötzlich durch einen schallenden Furz unterbrochen. „Ich glaub’s nicht.“, hauchte ich angeekelt. „Oh Hasi, war das gerade…?“ „Jep.“
Im Bad des Nachbarzimmers saß jemand auf dem Klo und schiss was das Zeug hielt. Es war grauenvoll und die Öffnungen unterhalb der Baddecke, welche als Lüftung dienen sollten und somit alle Badezimmer miteinander verbanden, ließen diese Prozedur so bestialisch erklingen, als säße die kackende Person direkt neben unserem Bett.
Es war laut, es war live und das Porzellan der Schüssel verlieh dem ganzen Hörspiel obendrein noch einen knatternden Suround Sound.
Wir waren vollkommen aus unserer Gedankenwelt herausgerissen und lauschten ungewollt und angewidert unserem Nachbarn, wie dieser gerade versuchte seinen Magen für das Frühstück frei zu räumen. Mein linkes Auge begann wieder zu zucken und Anne hielt sich während der gesamten Prozedur instinktiv ihre Hand vor die Nase.
„Is mir schlecht.“, flüsterte sie dann und stand auf. Es hörte sich an wie das Öffnen eines nassen Klettverschlusses an einem Nike Turnschuh, als sich unsere Körper trennten und Anne sich zu ihrer Bettseite rollte. Es war ein entspannendes Gefühl endlich wieder Luft an die rechte Körperhälfte abzukriegen. Nur einen Augenblick später und wir hätten beide einen Hitzeausschlag bekommen, darüber war ich mir sicher.
„Das Wasser geht nicht.“, sagte Anne dann einen Moment nachdem sie im Bad verschwunden war. „Nicht einmal das Kalte?“ „Nee!“ „Oh Mist, also ohne Waschen in Stadt…na toll.“
Was für ein Morgen. Das Zucken meines Auges wurde nun heftiger und ich beschloss später eine Sonnebrille aufzusetzen, um nicht wie so ein nervöser Irrer zu erscheinen. Ob es wirklich helfen würde wusste ich nicht, denn unser Plan, trotz aller Bedenken, dennoch an diesem Tag Aufnahmen von Kigali zu machen, beunruhigte mich bereits ungemein. Wir hatten uns also entschieden die ersten Impressionen der Hauptstadt einzufangen. Es brauchte dazu keine lange Zeit, denn uns war nur allzu bewusst, dass wir im Grossen und Ganzen gar keine Wahl hatten.
Wir mussten einfach anfangen, denn wer wären wir, wenn wir es nicht einmal versuchen und unser Vorhaben bereits am Anfang hinschmeißen würden. Also stand es fest, wir sollten die ersten Aufnahmen in Kigali machen und wollten also unsere Arbeit noch am selben Tag beginnen.
„Ich weiß…“, schrie Anne plötzlich. Wir waren gerade auf dem Weg ins Zentrum und Anne hatte offensichtlich einen Einfall. „…wir schleichen uns einfach auf ein zwei Hochhäuser und bauen die Kamera dann da oben auf. Weißt du?“
Ich wusste. Sie hatte ohne Zweifel wieder ihre Agentenrolle eingenommen, ich aber fand diese Idee gar nicht schlecht, stellte mir jedoch im gleichen Atemzug vor, wie die Soldaten von unten auf uns feuern würden und wir voller Panik irgendwo Deckung auf einem Balkon suchen müssten. „Also was sagst du? Wollen wir da hoch?“ Sie deutete auf das Hochhaus. „Na los, aber unauffällig.“
Wir gingen zielstrebig die Treppen herauf. Vorbei an einigen Leuten, die uns fragend anblickten. Wir waren nervös taten aber so, als bestiegen wir diese Treppe täglich und wussten genau wo wir hinwollten. Ich grüsste sogar noch einige von ihnen. Es war perfekt und unser Plan schien zu funktionieren. Die Leute schufen keinen Verdacht und wir fühlten uns wie ein professionelles Sniperteam, welches auf diesem Gebäude Stellung beziehen sollte.
Wir wählten die dritte Etage und positionierten die Kamera am Rande eines Geländers auf das Stativ. Die Arbeit begann.
Wir drehten was das Zeug hielt. Ich mit einem Auge am Sucher und Anne Ausschau haltend und nach Motiven suchend neben mir. Es klappte und zwar besser als wir erwarteten. Niemand sah uns.
Eine Frau tauchte plötzlich hinter uns auf und als sie uns bemerkte blieb sie stehen. Sie starrte von uns auf die Kamera und von der Kamera auf uns. Schweigen. Wir blickten sie an, aber keiner sagte auch nur ein Wort. Mein Auge begann wieder zu zucken. Nicht jetzt, dachte ich. Sie aber starrte weiter und holte dabei Luft, als wollte sie schreien. Das war’s. Jetzt würde sie gleich Hilfe rufen um uns dann brutal vom Balkon zu schubsen, vermutete ich. Was sollten wir tun…, kämpfen…, springen? Sie trat einen Schritt auf uns zu, ließ uns aber keinen Augenblick aus den Augen.
Ich hielt die Luft an und stellte mich instinktiv vor die Kamera. „Muraho.“, sagte sie dann und sofort fiel eine Last von uns. Ich atmete hörbar aus und mein Shirt weitete sich sichtlich um die Bauchgegend. Wir waren noch keine drei Tage im Land, aber dieses Wort hatten wir bereits gelernt. Um es genau zu sagen, war es das einzige Wort, welches wir gelernt hatten. Es bedeutete übersetzt soviel wie: „Hallo, wie geht’s?“ Wäre es ein anderes Wort gewesen, hätten wir wahrscheinlich sonst etwas gedacht, aber nein, sie sagte genau dieses und wir wussten sogar die Antwort darauf. „Ni Meza.“ „Gut, danke.“ Sie lächelte daraufhin und ging an uns vorbei. Anne und ich blickten uns an und wir mussten vor Erleichterung grinsen.
Wir packten dann unser Zeug zusammen, bereit das nächste Hochhaus aufzusuchen.
Das Telefon klingelte und wir dachten im ersten Moment die Polizei hätte uns entdeckt und würde uns nun, wegen des gefilmten Bankgebäudes auf der anderen Straßenseite, auffordern, mit erhobenen Händen herunter zu kommen. Es musste einfach die Polizei sein, denn eigentlich besaß noch niemand die Nummer. Wir hatten uns die SIM Karte nämlich gerade erst besorgt und waren dementsprechend noch gar nicht dazu gekommen, jemanden in Deutschland die neue Nummer mitzuteilen. Also wer war es, fragten wir uns.
Anne nahm ab. Es war Regina, natürlich war es Regina. Wir Dussel hatten in der ganzen Aufregung vergessen, dass wir ihr die Nummer gerade vor wenigen Stunden geschickt hatten. Wir waren einfach zu verwirrt.
Sie war jedenfalls gerade auf dem Weg zum Markt und wollte wissen, ob wir sie vielleicht begleiten möchten. „Selbstverständlich….’, antwortete Anne. „…wir kommen sofort mit.“
Das war die Gelegenheit die wir brauchten gute Aufnahmen zu bekommen. Regina kannte sich in Kigali aus und sprach sogar noch etwas die Landessprache, Kinaruanda. Also fassten wir unseren Mut zusammen und zogen mit ihr auf den Gemüsemarkt.
Die Gegend beim Markt war ein krasser Unterschied zu dem, was wir die ganze Zeit über im Zentrum beobachteten. Die Armut der Menschen nahm hier nun Gestalt an. Es waren viele Menschen aus der Strasse, von denen aber nur wenige wirklich beschäftigt aussahen. Die meisten lungerten eher rum und begutachteten uns wie ungewollte Eindringlinge. Ihre Kleidung war notdürftig, dreckig und bei den meisten Kindern zig Nummern zu groß.
Die Geschäftigen in Schlips und Kragen sahen wir hier so wenig, wie teure Autos und leuchtende Reklameschilder. Wir waren ohne Zweifel in einer Gegend gelandet, in welcher man sich als Tourist normalerweise nicht aufhält.
Rote Sandstrassen durchkreuzten dieses unebene Wohngebiet wie Risse in einer zerbrochenen Glasscheibe. Es gab keine Ordnung, so schien es jedenfalls. Die unzähligen Lehmhäuser mit ihren rostigen Dächern waren so eng aneinander gebaut, dass man sich fragen musste, wie die Menschen zu ihnen gelangten. Sie sahen aus, wie auf einen Haufen geworfene Bausteine, welche sich wahllos über die vielen Hügel Kigalis verteilten. Nur ab und zu blitzte ein >neues< Blechdach die reflektierende Sonne in unsere Richtung.
Wir schlängelten uns durch eine Gruppe von Leuten um zum Eingang des Marktes durchzudringen und derer vielen Blicke wusste ich keinesfalls zu deuten. Waren wir willkommen, störten wir oder waren wir wegen unserer auffallenden Hautfarbe einfach nur interessant, Anne und ich hatten keine Ahnung was wir denken sollten. Uns war unwohl bei dem Gedanken in Kürze die Kamera auf diese Menschen zu richten, wahrscheinlich ahnend, welche Reaktion wir von ihnen zu erwarten hatten. Ich glaube man sah uns an, dass wir diesen Teil der Welt niemals zuvor besucht hatten, denn wir verhielten uns dementsprechend angespannt, Regina aber war völlig gelassen und führte uns zwei erfahren in Richtung Markt.
Dieser war komplett von einer hohen Betonmauer umgeben und wir mussten eine schmale Treppe erklimmen, um ins Innere zu gelangen.
„Muzumbu, Muzumbu.“, schrieen einige Leute sofort, als wir an der ersten Reihe von Verkaufsständen ankamen. Ein weiteres Wort welches wir Dank Regina lernen durften und es bedeutete so viel wie „Weißer Mensch.“
„Passt ab jetzt gut auf eure Sachen auf.“, sagte Regina direkt.
„Okay, okay… ja okay, ich pass auf.“, hauchte Anne angespannt, während sie sich den Fotorucksack auf die Brust schnallte und beide Arme schützend über ihn legte. „Alles ist gut, Annemaus. Das wird schon.“, beruhigte ich sie, wendete ihr aber meine rechte Seite zu, damit sie mein Augenzucken nicht sehen konnte.
Der Zeitpunkt war nun gekommen und ich holte die Kamera aus der Tasche. „No foto, no foto.“, winkten einige Frauen sofort ab, obwohl ich noch nicht einmal die Kappe von der Linse entfernt hatte. „Oh man, ich hab’s gewusst…“, zischte ich mit zusammen gekniffenen Zähnen. „…das wird doch nichts.“
Überraschender Weise jedoch postierten sich plötzlich andere Leute vor mir und gaben mir durch ein Kopfnicken zu verstehen, ich solle ein Foto von ihnen machen. Im ersten Augenblick war ich misstrauisch, aber sie meinten es wirklich ernst. Ich war so erleichtert. Das war die Reaktion die wir brauchten. Also hielt ich drauf. Das Problem war nur, dass die Jugendlichen glaubten ich hätte eine Fotokamera in der Hand. Sie stellten sich deshalb vor mir auf, formten mit ihren Händen komische Hip Hop Gesten und warteten dann grinsend auf den Blitz.
Es war ein merkwürdiger Moment. Ich stand da und starrte angespannt in den LCD Bildschirm und hoffte darauf, dass die Jungs sich bewegten. Diese aber, immer noch in der Hip Hop Stellung posierend, wurden immer unruhiger, da kein Blitz aus der Kamera kam.
Ihr Grinsen verschwand langsam und ich wurde nervös. „Hey brother, ju mäk fotto nau!”, rief mir einer von ihnen zu und „Yeah, yeah ju mäk fotto nau!“, darauf laut seine Kumpels. „Mist…“, flüsterte ich vor mich hin und trat dabei unruhig von einem Bein aufs andere. „…wasj mach ich denn nun?“ Ich musste was sagen. „No, no, it’s video, you know? No foto!“ „WOTT, NO FOTTO?“ Sie lösten sich augenblicklich von ihren Hip Hop Haltungen und kamen auf mich zu. Das war’s, dachte ich sofort. Jetzt sind sie wütend. Was soll ich machen, fragte ich mich. Weglaufen, mein Taschenmesser ziehen, stillstehen?
Ich entschied mich fürs Stillstehen und drückte deshalb mein zuckendes Auge an den Sucher der Kamera und richtete diese auf einen Sack Reis. Dann stand ich still. Es passierte jedoch nichts. Mein gesamtes Leben lief zwar gerade in Sekundenbruchteilen vor mir ab, aber meine „brother’s“ waren überhaupt nicht an mir interessiert, sondern nur an der Kamera.
Sie umzingelten mich und begutachteten das gute Stück ausführlich, wobei sie mir sogar freundschaftlich auf die Schultern klopften. Ich stand noch still, beruhigte mich jedoch sichtlich.
„Ahh, no fotto. Ju record sound.“, sagte einer von ihnen. „Yes…“, gab ich erleichtert wieder. „…i record audio, you know… and video.“ „Ahh, video…cool brother.“, kam sofort von allen zurück und es flogen erneut einige Hände durch die Luft, um mir auf meine Schultern zu klopfen.
Ich fand das alles nun lustig, schämte mich aber gleichzeitig für die Vorurteile die ich ihnen gegenüber gehegt, und welche mich so geplagt hatten. Aber was sollte ich machen, so war es nun einmal und Vorsicht ist ja bekanntlich auch besser als Nachsicht.
Die restliche Zeit auf dem Markt nutzten Anne und ich für weitere Aufnahmen. Wir gingen dabei die Reihen der Stände entlang, fragten hier und da um Erlaubnis, bekamen aber kurzer Hand die Bilder die wir brauchten. Wir wurden zwar so einige Male angebrüllt und mussten ab und an sogar etwas Geld für „Fottos“ berappen, trafen aber dennoch auf so manche Marktverkäufer, die uns ohne Probleme haben filmen lassen.
Etwas später führte uns Regina durch ein ärmliches Wohngebiet, nicht weit entfernt vom Markt. Uns wurde augenblicklich etwas mulmig bei dem Gedanken mit unserer Ausrüstung in dieser Gegend spazieren zu gehen. Wir sollten unser Glück nicht strapazieren, überlegte ich mir. Denn hatten wir zwar den Marktbesuch noch glimpflich überstanden, musste das ja nicht gleich bedeuten, dass wir freiwillig unsere Wertsachen ins Ghetto bringen sollten und das in der Hoffnung mit diesen dort auch wieder heil heraus zu kommen.
Regina aber beruhigte uns. „Macht euch keine Sorgen, es ist wirklich sicher hier.“ „Okay, okay… ja okay, ich bin ruhig.“, sagte Anne nervös, während sie sich den Fotorucksack erneut auf die Brust schnallte um ihn wieder mit beiden Armen zu schützen.
So gingen wir die Strasse entlang, Regina völlig entspannt weit voraus an der Spitze, dann Anne, beide Arme fest den Rucksack umschlingend und kurz hinter ihr ging ich, hastig von links nach rechts blickend und sehnsüchtig wünschend, dass Regina mit ihrer Aussage recht behielt.
Aber weit kamen wir nicht.
„GIVE ME MONEY!“, schrie plötzlich jemand hinter uns. Anne und ich blieben direkt stehen, drehten uns jedoch nicht sofort um. „Oh mein Gott…!“, sagte Anne. „…nicht schon wieder!“ „Wir können nichts machen.“, gab ich leise zurück. „Es war doch klar dass uns so was hier passiert.“ „Und nun?“ „Ganz ruhig, Annemaus!“ „Du hast gut reden.“
„GIVE ME MONEY!“, hieß es erneut. Wir drehten uns langsam um, damit wir unseren Peiniger zu Gesicht bekamen.
Da stand er, frech grinsend und circa fünfundachtzig Zentimeter groß. Schweigend blickten wir uns einen Moment in direkt in die Augen. Seine waren schmutzig und verklebt und der Rotz lief ihm in einer dickflüssigen Masse aus der Nase. Er hielt uns eine offene Hand entgegen und hob fordernd seinen Kopf. „GIVE ME MONEY!“, verlangte er nochmal.
Wir konnten es nicht glauben mit welch einer Dreistigkeit diese kleine Person von uns Geld zu erbetteln schien. Wir kannten bis dahin schon so einige Methoden, aber diese war mit Abstand die rabiateste von allen. Das war kein Betteln, das war ein Raubüberfall.
Wir standen noch vor ihm und mussten erst einmal verdauen, was wir hier gerade miterlebten, aber der Lütte gab uns keine Ruhepause.
„GIVE ME MONEY, MUZUMBU!“, schrie er uns nun förmlich an. Das war es gewesen. Es ging los. Das Wort „Muzumbu“ hatte eine Kettenreaktion ausgelöst und innerhalb weniger Sekunden, strömten alle Kinder aus den umliegenden Häusern auf uns zu, wie eine Schar Raben die gerade Nahrung entdeckt hatte.
„Muzumbu, Muzumbu.“ Alle rannten sie rufend auf uns zu. Es war unglaublich und nun meldete sich auch mein linkes Auge zurück. Es zuckte heftig und ich nahm die herankommenden Kinder, wie im Stroboskoplicht einer Disko, nur noch stockend wahr.
„Give me money!“, „Give me money!“, „Give me money!“, schallte es aus allen Richtungen. Es waren einfach zu viele von ihnen und wir mussten fliehen. Schnell gingen wir zu Regina. Sie war schon ein ganzes Stück voraus und hatte von alldem gar nichts mitbekommen, war aber bei dem Anblick der Kindergruppe, die uns ab diesem Zeitpunkt nicht mehr verließ, keinesfalls überrascht.
Sie kannte dieses Schauspiel nur allzu gut, wie sie uns erzählte, denn den „Muzumbu, also den weißen Mann“ betrachtet man hier in Ruanda ohne Zweifel als wandelnder Geldautomat.
Die Bettelei ist also auch in Ruanda allgegenwärtig, was aber nicht bedeutet, dass Anne und ich diese auch unterstützen. Ganz im Gegenteil, wir sind absolut dagegen und verurteilen jeden der denkt, er täte etwas Gutes, indem er einem Bettler wenige Cents in die Hand legt. Denn Bettelei zerstört ehrliche Arbeit.
Ein Pflücker auf der Teeplantage hier in Ruanda zum Beispiel verdient am Tag zwischen zwei und drei Euro und das auch nur, wenn er mindestens zehn Stunden leistet. Eine Kellnerin verdient zwei bis vier Euro am Tag und arbeitet sechs tage die Woche. Ist es demnach gerecht, wenn ein Bettler dafür nur ein paar Mal die Hand aufhalten muss, fragen wir. Nein, absolut nicht.
Wird Bettelei erst einmal lukrativ, tut es morgen jeder. Nur allzu oft nehmen Eltern ihre Kinder aus der Schule, um sie lieber auf die Touristen loszulassen. Die Kinder selbst werden bei der Bettelei dann aggressiver, da es immer mehr von ihnen versuchen und somit ihre Erfolgsquote sinkt. Das hat zur Folge, dass ein Spaziergang durch die Stadt beinahe unerträglich wird. Aber nur weil wir Bettelei verurteilen, bedeutet das noch lange nicht, dass die ärmlichen Verhältnisse ohne Spuren an uns vorbei ziehen. Uns zerreißt es förmlich die Herzen, wenn man Kinder, ja selbst Erwachsene in ihrer Armut beobachtet, wie sie jammernd um Geld betteln. Wir sehen das Elend, wissen aber im Inneren, ihnen Geld zu geben, wäre der falsche Weg. Man kann anders helfen.
Wir zum Beispiel versuchen unser Geld ein kleines bisschen zu verteilen. Wir kaufen unser Essen und Trinken in verschiedenen Geschäften, wir besuchen selten das gleiche Restaurant und kaufen unsere Souvenirs nicht in Großmärkten, sondern bezahlen gerne etwas mehr bei den Machern vor Ort. Und wenn man denkt es sei nicht genug, Schulen, Waisen- oder Krankenhäuser freuen sich über eine Spende immer sehr.